Ein Tag ohne Zufall
du meinst …« Er schüttelt den Kopf und sagt zu den anderen: »Rosa! Wär ich nie drauf gekommen. Eigentlich war die Frage doch gar nicht so blöd, Aidan.«
Wenn du meinst?
Die meisten Leute glauben, man könnte sich im Leben frei entscheiden. Mrs Wicket scheint beispielsweise daran zu glauben, dass ich einen Einfluss darauf habe, ob ich in Hedgebrook bleibe. Aber manchmal wird einem die Entscheidung eben abgenommen.
Wenn du meinst?
Ich sage nur, wie es ist.
Seth spielt schon weiter, stellt erst Aidan eine Frage und dann Mira … alle machen sie weiter, nur ich hinke immer hinterher, tanze wie immer aus der Reihe. Noch nie habe ich irgendwem von den nicht abgeschickten Briefen erzählt – den Beratungslehrern nicht, Mr Anwalter nicht, nicht mal Tante Edie. Weil es sich nämlich so verhält, wie Seth gesagt hat: dass manche Leute die Wahrheit nicht vertragen können. Weil es manchmal einfacher ist, in einer Phantasiewelt zu leben. Nicht nur einfacher, sondern klüger.
Ich sehe die Briefe vor mir, das rosa Briefpapier, mit dem mich Mr Anwalter reichlich versorgt, das gleiche Briefpapier, das mir Mama gekauft hat, als ich fünf war und schreiben lernte. Die immer wieder von neuem geschriebenen Seiten, auf denen ich die Buchstaben zähle, als käme es auf die richtige Anzahl an. In einem Jahr musste immer eine schöne, große, gerade Zahl herauskommen – hundert –, im nächsten Jahr redete ich mir ein, dass jeder Satz genau neunzehn Wörter haben müsste, dann wieder schrieb ich jedes Mal vier Absätze, einen für jedes Mitglied unserer Familie … unserer Scheinfamilie. Ich bildete mir ein, wenn ich ein ganz bestimmtes Timing, einen festen Ablauf beim Schreiben und Abschicken einhielt, könnte ich damit vielleicht den Ablauf bestimmter früherer Ereignisse aufheben. Bis ich schließlich letztes Jahr die Blätter nur noch mit einem einzigen Wort vollschrieb – beidseitig. Nie abgeschickt. Jedes Mal sorgfältig weggepackt, weil ich begriff, dass die Wirkung meiner Ergüsse nicht davon abhing, ob ich sie abschickte. Weggepackt, weil ich begriff, dass ich nichts zu entscheiden, nichts mitzubestimmen hatte und dass kein Brief, keine noch so ausgetüftelte Wortwahl daran je etwas ändern kann. Weggepackt, weil ich im Grunde daran zweifelte, ob ich es verdiente, dass mich jemand anhörte.
Wenn du meinst?
Seth diskutiert immer noch mit Aidan. Lebhaft, interessiert, beteiligt. Er macht weiter. Ohne mich. Er lässt mich hinter sich zurück. Ich räuspere mich.
»Doch!«
Seth lässt seinen angefangenen Satz in der Luft hängen und fragt verdutzt: »Wie bitte?«
»Heute. Jetzt. Ich will hin.«
»Wohin?«
»Darf ich bitte mal ausreden?«, beschwert sich Aidan.
»Pssst!«, machen Seth und Mira.
»Na denn!«, sagt Mira munter und hievt sich auf die Ruderbank. »Wohin geht die Fahrt, Des? Ans andere Seeufer?«
»Zu meinen Eltern. Ich will nach Hause. Ich muss etwas mit ihnen klären.«
Seth nickt.
Aidan zieht die Augenbrauen hoch.
Mira grinst.
»Das wird ja langsam auch Zeit«, sagt sie. »Dann wollen wir mal.«
27
Es wird langsam Zeit … Immer geht es um Zeit. Hätte es damals anders laufen können? Wir wissen alle, dass man die Vergangenheit nicht rückgängig machen kann, aber wie viele bringen die Willenskraft auf, sich ganz davon abzuwenden? Sich nicht ab und zu vorzustellen, man hätte gewisse Schritte in einer anderen Reihenfolge gemacht, ein Wort mit mehr Nachdruck ausgesprochen, eine Sekunde später Luft geholt? Eine Sekunde, die unendlich viele Möglichkeiten in sich birgt. Wäre ich doch nur jemand anders gewesen … Wären sie nur anders gewesen … Und sei es einen Augenblick lang. Hätte ich versöhnlicher sein sollen? Oder sie? Hätte ein einziger Schritt zu tausend ganz anderen Schritten geführt?
Jeden Tag schaue ich zurück, beschäftige ich mich mit der Vergangenheit. Der Himmel war voller dicker, aufgebauschter Wolken, von der Sorte, die ständig die Form verändern. Ein Vogel. Ein Elefant. Ein Kaninchen. Der Himmel sah wie die Pappteller auf einem Kindergeburtstag aus. Ein Kindergeburtstag. Wie kann es sein, dass ihnen das entging? Als wir zum Auto liefen, regnete es.
Auf der Fahrt zum Flughafen war Papa unruhig. Er war lieber Pilot als Passagier, aber der Arzt hatte in letzter Minute den Termin verschoben und Papa konnte nicht selber fliegen, das ließ sich am Zielflughafen nicht einrichten. Ich war sieben und begriff nichts von Flugplänen und verschobenen Terminen. Ich
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