Ein Tag ohne Zufall
noch tiefer reinreite. Aber im Grunde ist er selber schuld. Er geht von der Vermutung aus, dass es mein Auto ist. Ich habe das nie behauptet. Sich auf Vermutungen zu verlassen ist nie gut. Ich kann es ihm auch noch heute Abend sagen, wenn wir zurückfahren.
Aber er hat dich jetzt gefragt.
Hat dich ganz offen gefragt. »Äh, Seth …«
»Ja?«
»Heute. Ich hab das Auto seit heute. Es war eine Überraschung.«
»Ein Geschenk von deinen Eltern? Wollten sie ihr schlechtes Gewissen beruhigen?«
»Sieht so aus.«
Gleich sind wir am Auto. Nur noch ein paar Fugen auf dem Bürgersteig. Ein paar Atemzüge. Es wäre so wichtig. Und ich verhaue alles.
Siebzehn, achtzehn …
»Was zählst du da eigentlich?«
Ich gehe schneller. Woher weiß er das? »Nix.«
»Du hast aber die Lippen bewegt.«
»Ich hab vor mich hingesummt. Ein Lied.«
»Nein, du hast gezählt.«
»Lass den Blödsinn, Seth.«
Er stöhnt genervt und sagt: »Warum soll ich eigentlich immer alles lassen? Warum musst du immer alle Leute vergraulen?«
Ich gehe fünf Schritte, hole dreimal Luft, trete auf zwei Fugen, dann antworte ich: »Wenn du mich besser kennen würdest … Wenn ich das zulassen würde … dann löst du dich vielleicht in Luft auf.«
»
Wie bitte?
Du spinnst doch!«
Ich bleibe stehen. Jetzt sieht er mich wieder so an. Wie eine Verrückte. Wie jemanden, der so zerbrechlich ist, dass man ihn nur mit Samthandschuhen anfassen darf. Es wäre mir lieber, er würde sich über mich lustig machen. Dann würde ich mich stärker fühlen. Für zerbrechlich gehalten zu werden macht mich schwach.
»Des, ich wollte dich nicht …«
Ich setze mich wieder in Bewegung, aber er packt mich am Arm und zieht mich in einen Ladeneingang. Er hält mich an beiden Armen fest. »Es ist mir scheißegal, ob du eben gezählt hast, Destiny. Meinetwegen kannst du das Periodensystem der Elemente auf Chinesisch aufsagen. Ich wollte bloß irgendwie wieder an dich rankommen, ist das denn so schlimm?«
Er ist ein ganzes Stück größer als ich, ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. Seine Hände um meine Arme sind ganz warm. Mein Nacken verspannt sich. Was hat er eben gefragt? Ob das so schlimm ist? Meine Knie zittern. Werden heiß. Trotzdem tragen sie mich noch. Sein Gesicht ist dicht vor meinem. Höchstens zehn Zentimeter. Er öffnet den Mund. Legt den Kopf schief. Neun Zentimeter. Acht. Sieben. Mein Brustkorb steht in Flammen. Sechs. Fünf. Ich drehe mich weg, fixiere den Boden neben uns. Vier. Die Unglückszahl. Er macht einen Schritt nach hinten. Lässt mich los.
»Mira und Aidan warten bestimmt schon«, sage ich.
Er weicht noch weiter zurück, dreht sich um, als gäbe es am Ende der Straße etwas zu sehen, kneift die Augen zusammen, steckt die Hände in die Hosentaschen und wendet sich wieder mir zu. »Und Lucky wird bestimmt auch schon ungeduldig.« Noch einmal dreht er sich weg, und als er mich wieder anschaut, grinst er. Fast ein bisschen überheblich, aber immerhin.
Ein Angebot. Zumindest ein Waffenstillstand.
Und da, in diesem Augenblick, hätte ich ihm am liebsten alles anvertraut, was ich sonst vor anderen geheim halte, alles, was mich beschäftigt. Aber im Grunde will er das bestimmt gar nicht hören. Begreifen wir nicht oft erst dann, was wir wirklich wollten, wenn es zu spät ist?
30
Osten. Ich weiß, dass wir nach Osten müssen.
»Da lang«, wende ich mich an Seth. Es werden immer weniger Häuser, sie stehen weiter auseinander. Häuser. Keines kommt mir bekannt vor. Der Wind ist kalt. Man müsste das Verdeck schließen. Kann sich der Wechsel von einer Jahreszeit zur nächsten im Lauf eines einzigen Tages vollziehen? Im Lauf weniger Stunden?
Wir kommen an Feldern voller gelber Blumen vorbei. An Birkenwäldchen. An weißen Holzzäunen. Erinnerungen … Die Farben und Formen von zu Hause. Aber es ist kein Zuhause. Nicht mehr. Nach dem heutigen Tag wird es nie mehr mein Zuhause sein.
»Wir müssen noch mal anstoßen!«, befindet Mira. Wir haben vorhin auf dem Markt angehalten und uns jeder einen Cherry Slush gekauft, und jetzt verwandelt Mira das Trinken in das nächste Spiel – Hauptsache, es breitet sich kein Schweigen aus, Hauptsache, wir vergewissern uns immer wieder, dass wir zusammengehören. Wir haben schon auf Mrs Wicket angestoßen, auf Lucky, auf den Präsidenten und das Glücksmobil, wie Mira unser Auto getauft hat. Worauf denn nun noch?
»Auf Miss Boggs und den fehlenden Arbeitsbogen!«
»Auf
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