Ein Tag wie ein Leben
habe mich
oft gefragt, wie diese Paare so tief sinken konnten.
Und während Jane in New York war, kam mir der schreckliche
Verdacht, wir könnten uns in dieselbe Richtung bewegen.
Als ich Jane am Flughafen abholte, war ich ganz aufgeregt. Was für
ein seltsames Gefühl! Sie begrüßte mich mit einem scheuen Lächeln.
Erleichtert nahm ich ihr den Koffer ab.
»Wie war die Reise?«
»Sehr schön. Aber ich verstehe wirklich nicht, wieso Joseph unbedingt in New York wohnen muss. Diese Hektik überall! Und dann
der ständige Lärm! Auf die Dauer würde ich das nicht aushalten.«
»Heißt das, du freust dich, dass du wieder hier bist?«
»Ja. Aber ich bin erschöpft.«
»Das kann ich mir vorstellen. Reisen ist anstrengend.« Wir schwiegen beide, und ich nahm ihr Gepäck in die andere Hand. »Wie geht
es Joseph?«, erkundigte ich mich dann.
»Gut. Ich finde, er hat seit seinem letzten Besuch ein wenig zugenommen.«
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, die du mir am Telefon noch
nicht erzählt hast?«
»Ich glaube nicht. Er arbeitet zu viel, aber das ist ja nichts Neues.«
In Janes Stimme schwang eine leise Traurigkeit mit, die ich nicht
recht einordnen konnte. Während ich noch darüber nachdachte, fiel
mein Blick auf ein junges Paar: Die beiden umarmten sich so stürmisch, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen.
»Ich bin froh, dass du wieder da bist«, sagte ich leise.
Jane schaute mir fest in die Augen, bevor sie sich dem Förderband
zuwandte, auf dem die ersten Gepäckstücke kreisten. »Ich weiß«,
sagte sie.
So sah es vor einem Jahr zwischen uns aus.
Ich würde gern behaupten, dass sich die Situation nach Janes Reise
rapide und grundlegend verbesserte, aber leider war das nicht der
Fall. Stattdessen lebten wir weiterhin in unserem Alltagstrott nebeneinander her. Es war nicht so, dass sich Jane mir gegenüber irgendwie aggressiv verhalten hätte, aber unterschwellig wirkte sie immer
unzufrieden. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Es war, als stünde
zwischen uns eine Mauer der Gleichgültigkeit, die sich, von mir unbemerkt, nach und nach aufgebaut hatte. Ende November, also drei
Monate nach dem vergessenen Hochzeitstag, war ich so zermürbt,
dass ich beschloss, noch einmal mit Janes Vater zu reden.
Er heißt Noah Calhoun, und wenn Sie ihn kennen würden, wäre Ihnen sofort klar, weshalb ich mich in meiner Ratlosigkeit an ihn
wandte. Er und seine Frau Allie sind vor fast elf Jahren nach Creekside gezogen. Creekside ist eine Anlage für betreutes Wohnen, zu der
auch eine Pflegestation gehört. Die beiden waren zum Zeitpunkt ihres Umzugs bereits fünfundvierzig Jahre verheiratet. Inzwischen
musste Noah lernen, wieder allein zu schlafen.
Ich war nicht überrascht, als ich sein Zimmer leer vorfand. Meistens saß er draußen auf einer Bank am Teich, wenn ich ihn besuchte,
aber vorsichtshalber trat ich ans Fenster, um mich zu vergewissern,
dass ich ihn auch heute dort antreffen würde.
Selbst aus der Ferne konnte man ihn ohne Probleme erkennen: die
dichte weiße Haarmähne, seine gebeugte Haltung, die hellblaue
Wolljacke, die Janes Schwester Kate kürzlich für ihn gestrickt hatte.
Noah war siebenundachtzig Jahre alt, ein Witwer mit arthritisch verkrümmten Händen, und auch sonst war sein Gesundheitszustand alles
andere als stabil: Er musste immer seine Herztabletten mit sich herumtragen, und er hatte Prostatakrebs. Aber das wäre alles nicht so
schlimm gewesen - seine psychische Verfassung bereitete den Ärzten
viel größere Sorgen. Vor ein paar Jahren hatten sie mich und Jane zu
sich gebeten und uns mit ernster Miene eröffnet, Noah leide an
Wahnvorstellungen, die immer schlimmer würden. Ich wusste nicht
recht, was ich davon halten sollte, denn schließlich kannte ich Noah
besser als die meisten anderen Leute - auf jeden Fall besser als die
Ärzte. Abgesehen von Jane war er mein bester Freund. Und als ich
ihn nun so mutterseelenallein auf seiner Bank sitzen sah, wurde mir
schwer ums Herz, weil ich an all das denken musste, was er verloren
hatte.
Seine Ehe war vor fünf Jahren zu Ende gegangen. Zynische Menschen würden vielleicht die These vertreten, dass sie schon lang vorher vorbei war: Allie litt in ihren letzten Lebensjahren an Alzheimer.
Was für eine grausame Krankheit! Die Persönlichkeit löst sich langsam auf, Stück für Stück verschwindet alles, was den Menschen
einmal ausgemacht hat. Was sind wir ohne unsere Erinnerungen,
ohne unsere Träume? Das
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