Ein Tag wie ein Leben
Allie die Geschichte ihrer Liebe vorlas. Aber je länger ich darüber nachdachte,
desto verwirrter wurde ich: Im Grunde wusste ich überhaupt nicht,
was Jane eigentlich an mir gefunden hatte! Ich war schon immer ein
ausgesprochen verantwortungsbewusster Mensch gewesen, aber das
war ein Charakterzug, den junge Frauen damals nicht unbedingt attraktiv fanden. Immerhin gehörte ich zur Generation der »Babyboomer«, also zu den Kindern, die nach dem Krieg geboren wurden und
eigentlich nur an sich selbst und ihr Vergnügen dachten.
1971 bin ich Jane das erste Mal begegnet. Ich war damals vierundzwanzig und studierte Jura an der Duke University. Die meisten Leute hätten mich als gewissenhaften, fleißigen Studenten beschrieben.
Ich nahm das Studium von Anfang an ernst. Meine Zimmergenossen
im Wohnheim wollten immer schon nach einem Semester mit jemand anderem zusammenziehen, weil ich bis spät in die Nacht lernte
und meine Lampe sie störte. Für die meisten meiner Kommilitonen
schien das Leben aus einer endlosen Reihe von Wochenenden zu
bestehen, die durch langweilige Vorlesungen und Seminare unterbrochen wurden, wohingegen ich mich konsequent auf meinen zukünftigen Beruf vorbereiten wollte.
Dass ich ein ernsthafter junger Mann war, gebe ich gern zu, aber
Jane war die Erste, die mich als schüchtern bezeichnete. Wir lernten
uns an einem Samstagmorgen in einem Café in der Innenstadt kennen. Es war Anfang November, und wegen meiner Arbeit für die
Juristenzeitschrift Law Review fand ich meine Semesterkurse noch
anstrengender als sonst, weil mir einfach nicht genug Zeit blieb. Ich
hatte Angst, vielleicht nicht mehr richtig mithalten zu können, also
ging ich in das Café in der Hoffnung, dort für eine Weile büffeln zu
können, ohne dass mich jemand erkannte und ansprach.
Jane trat an meinen Tisch und nahm die Bestellung entgegen. Ich
erinnere mich ganz genau, als wäre es gestern gewesen: Sie hatte ihre
dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz frisiert, und ihre schokoladenbraunen Augen passten wunderbar zu der leicht olivenfarbenen
Haut. Sie trug eine dunkelblaue Schürze über ihrem himmelblauen
Kleid, und zu meiner großen Verblüffung lächelte sie mich an, als
würde sie sich ehrlich freuen, dass ich mich an einen ihrer Tische
gesetzt hatte. Als sie mich fragte, was ich gern hätte, fiel mir gleich
ihr dezenter Südstaatenakzent auf, der verriet, dass sie aus dem Osten
von North Carolina stammte.
In dem Augenblick ahnte ich natürlich noch nicht, dass wir schon in
naher Zukunft miteinander essen gehen würden, aber ich kam prompt
am nächsten Tag wieder und setzte mich an denselben Tisch. Sie
lächelte mir zu, als ich Platz nahm, und ich kann kaum beschreiben,
wie sehr es mich freute, dass sie mich wiedererkannte. Etwa einen
Monat lang ging ich nun jedes Wochenende in dieses Cafe, aber wir
wechselten nie ein persönliches Wort. Ich hätte es nicht gewagt, sie
nach ihrem Namen zu fragen, und sobald sie an meinen Tisch trat,
um meine Kaffeetasse nachzufüllen, wurde ich jedes Mal furchtbar
nervös. Aus irgendeinem Grund schien sie immer nach Zimt zu riechen.
Leider kann ich nicht leugnen, dass ich mich als junger Mensch in
Gesellschaft des anderen Geschlechts nie besonders wohl gefühlt
habe. In der Highschool war ich zudem weder ein erstklassiger
Sportler noch Schülersprecher oder etwas Ähnliches. Aber ich spielte
außerordentlich gern Schach und gründete deshalb einen Schachclub,
der immerhin auf eine Gruppe von elf Mitgliedern anwuchs. Bedauerlicherweise war aber kein einziges Mädchen darunter. Trotz meiner
mangelnden Erfahrung gelang es mir, im ersten Studienjahr mit
sechs oder sieben jungen Frauen auszugehen. Diese Abende fand ich
schön, aber da ich fest entschlossen war, erst dann eine ernsthaftere
Beziehung zu beginnen, wenn ich finanziell auf eigenen Beinen
stand, lernte ich keine dieser Frauen näher kennen und vergaß sie alle
ziemlich schnell wieder.
Aber die Kellnerin mit dem Pferdeschwanz ging mir nicht mehr aus
dem Sinn. Oft erschien ihr Bild vor meinem inneren Auge, wenn ich
am wenigsten damit rechnete. Mehr als einmal schweiften meine
Gedanken während einer Vorlesung ab, und ich malte mir aus, sie
würde in ihrer blauen Schürze durch den Hörsaal wandern und Speisen anbieten. Obwohl mir diese Träumereien sehr peinlich waren,
konnte ich nichts dagegen machen.
Wer weiß, wohin das alles geführt hätte, wenn Jane nicht die Initiative ergriffen
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