Ein Tag wie ein Leben
ersten Jahren unseres Familienlebens musste ich oft bis spät abends in der Kanzlei arbeiten - auch
am Wochenende -, weil ich beweisen wollte, dass ich genau der richtige Mann war, um als Partner in die Kanzlei einzusteigen, wenn dies
zur Debatte stand. Ich habe nie den mir zustehenden Urlaub aufgebraucht. Vielleicht war ich übereifrig, weil ich auf Ambry und Saxon
unbedingt einen guten Eindruck machen wollte, aber schließlich
musste ich den Lebensunterhalt für eine immer größer werdende Familie verdienen und durfte deshalb kein Risiko eingehen. Heute sehe
ich das anders: Ich glaube, dieser übertriebene berufliche Ehrgeiz
und meine angeborene Schweigsamkeit führten dazu, dass ich zum
Rest der Familie stets eine gewisse Distanz hielt. Letzten Endes blieb
ich dadurch in meinem eigenen Haus immer eine Art Außenseiter.
Während ich von der Arbeitswelt verschlungen wurde, hatte Jane
mit den Kindern alle Hände voll zu tun. Die drei belegten sie rund
um die Uhr mit Beschlag, und gelegentlich hatte ich das Gefühl, dass
Jane nur noch ein Schatten war, der auf dem Flur eilig an mir vorbeihuschte, um wieder einmal eins der Kinder schnell noch irgendwohin
zu kutschieren. In diesen Jahren haben wir häufiger getrennt gegessen als gemeinsam. Das fand ich zwar irgendwie merkwürdig und
ärgerlich, aber auf die Idee, etwas dagegen zu unternehmen, kam ich
nicht.
Vermutlich wurde uns dieser Lebensstil zur zweiten Natur, und
nachdem die Kinder nicht mehr unsere Zeiteinteilung bestimmten,
wollte es uns einfach nicht gelingen, die Leere zwischen uns neu zu
füllen. All meine Bemühungen, die Alltagsroutine zu durchbrechen,
waren etwa so effizient wie der Versuch, mit einem Kaffeelöffel einen Tunnel durch Granit zu graben.
Dabei strengte ich mich so an! Im Januar kaufte ich ein Kochbuch
und begann, Samstagabends immer für uns beide zu kochen. Manche
der Gerichte waren sehr originell und schmeckten gut - da muss ich
mir selbst auf die Schulter klopfen. Ich spielte nicht mehr nur Golf,
sondern fing an, dreimal in der Woche morgens durch unser Viertel
zu joggen, um abzunehmen. Ich verbrachte mehrere Nachmittage in
der Buchhandlung und blätterte alle möglichen Ratgeber durch, um
vielleicht noch ein paar nützliche Tipps zu finden. Was schlagen die
Experten bei Eheproblemen vor? Man solle sich auf vier Hauptpunkte konzentrieren, sagen sie, und sie fassten die Begriffe unter der
Abkürzung »ARZA-Prinzip« zusammen - Aufmerksamkeit, Respekt,
Zärtlichkeit, Attraktivität. Das leuchtete mir unmittelbar ein, und ich
begann, mich daran zu orientieren. Abends verbrachte ich mehr Zeit
mit Jane, statt mich gleich nach dem Essen in mein Arbeitszimmer
zurückzuziehen. Ich machte ihr immer wieder Komplimente, und
wenn sie mir von ihrem Tag erzählte, hörte ich ihr aufmerksam zu
und nickte an den entsprechenden Stellen, um ihr zu zeigen, dass
mich das alles brennend interessierte.
Ich bildete mir nicht ein, dass diese Maßnahmen wie von Zauberhand alles zum Guten wenden und Janes Leidenschaft wieder wecken würden - ich wusste, dass ich Geduld haben musste. Es hatte
neunundzwanzig Jahre gedauert, uns so weit voneinander zu entfernen, also konnte ich nicht damit rechnen, dass es innerhalb weniger
Wochen mit einer Annäherung klappen würde. Trotzdem ging alles
sehr viel langsamer voran, als ich erwartet hatte. Klar, es gab durchaus Verbesserungen, aber die waren minimal, und als sich das Frühjahr dem Ende entgegenneigte, befand ich, dass mir diese Politik der
kleinen Schritte nicht genügte. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen, etwas Dramatisches, etwas, womit ich Jane ein für alle
Mal beweisen konnte, dass sie der wichtigste Mensch in meinem
Leben war und es immer bleiben würde. Die zündende Idee kam mir,
als ich eines Abends spät im Wohnzimmer saß und ein Familienalbum durchblätterte.
Am nächsten Morgen war ich voller Tatendrang. Ich hatte einen
Plan! Diesen Plan wollte ich allerdings vor Jane geheim halten. Dabei musste ich methodisch vorgehen. Mein allererster Schritt war, ein
Postfach einzurichten. Viel weiter kam ich nicht - denn genau an
jenem Tag erlitt Noah einen Schlaganfall.
Es war nicht sein erster, aber der schwerste bisher. Fast acht Wochen lag Noah im Krankenhaus, und meine Frau widmete sich nun
ausschließlich seiner Pflege. Sie verbrachte den ganzen Tag auf der
Station, und abends war sie viel zu müde und erschlagen, um noch zu
merken, wie ich mich um eine
Weitere Kostenlose Bücher