Ein Tag wie ein Leben
sie in die Arme schloss, erschien auf Annas Gesicht ein geheimnisvolles Lächeln.
»Ach, Schätzchen!«, rief Jane. »Wie wundervoll! Wann hat er dir
den Heiratsantrag gemacht? Was hat er gesagt? Ich möchte alles
ganz genau wissen. Darf ich den Ring sehen?«
Doch Anna schüttelte nur den Kopf, und schon wurde Jane hellhörig. Was stimmte hier nicht?
»Wir wollen keine große Hochzeit, Mom. Weißt du, wir wohnen
doch schon zusammen - da fänden wir es irgendwie komisch, wenn
wir so ein aufwändiges Fest veranstalten würden. Und wir brauchen
weder eine neue Küchenmaschine noch eine supertolle Salatschüssel.«
Ich wunderte mich nicht besonders über diese Antwort. Dass Anna
schon immer etwas eigenwillig war, habe ich ja bereits erwähnt.
»Ja, aber…« Ehe Jane weiterreden konnte, nahm Anna ihre Hand.
»Ich muss noch etwas sagen, Mom. Es ist wirklich wichtig.«
Wieder schaute Anna vorsichtig von mir zu Jane.
»Also - ihr wisst ja so gut wie ich, dass es Grampa nicht besonders
gut geht.«
Wir nickten. Wie alle meine Kinder stand Anna ihrem Großvater
sehr nah.
»Ich meine - der Schlaganfall und alles drumherum. Keith hat
Grampa gleich ins Herz geschlossen, und für mich ist er sowieso der
beste Mensch auf der ganzen Welt…«
Sie schwieg. Jane drückte ihre Hand, um sie zum Weitersprechen
zu ermuntern.
»Also - wir möchten gern heiraten, solange Grampa noch mit uns
feiern kann, und es weiß ja niemand, wie viel Zeit ihm noch bleibt.
Deshalb haben Keith und ich uns überlegt - also, wir sind alle möglichen Termine durchgegangen, und weil Keith in zwei Wochen schon
seine neue Stelle antritt - und weil ich ja auch umziehe - und dann
Grampas Gesundheitszustand - also, wir wollten euch fragen, ob es
euch sehr viel ausmachen würde, wenn wir…«
Sie verstummte.
»Ob es uns sehr viel ausmachen würde, wenn ihr…?«, wiederholte
Jane tonlos.
Anna holte noch einmal tief Luft. »Wir wollten euch fragen, ob es
euch etwas ausmachen würde, wenn wir nächsten Samstag heiraten.«
Janes Lippen bildeten ein kleines rundes O. Anna sprach schnell
weiter, um möglichst alles loszuwerden, ehe wir sie unterbrechen
konnten.
»Ich weiß, es ist euer Hochzeitstag - und ich würde es natürlich akzeptieren, wenn ihr nein sagt -, aber wir dachten, es wäre doch eine
schöne Art, euch als Eltern zu ehren und euch zu danken. Für alles,
was ihr für mich getan habt und überhaupt. Und ich finde, so wäre es
am besten - also, wir möchten eine ganz schlichte Feier, nur auf dem
Standesamt und vielleicht ein Abendessen im Kreis der Familie. Wir
wollen keine Geschenke oder so etwas. Wärt ihr damit einverstanden?«
Als ich Jane anschaute, wusste ich, wie ihre Antwort lauten würde.
K
APITEL 3
Genau wie Anna und Keith waren auch Jane und ich nicht lang verlobt.
Nach meinem ersten juristischen Examen arbeitete ich gleich als
Assistent bei Ambry & Saxon - Joshua Trundle war damals noch
kein Teilhaber. Er war Angestellter, genau wie ich, und unsere Büros
lagen sich gegenüber. Joshua stammte ursprünglich aus Pollocksville, einem kleinen Dorf zwölf Meilen südlich von New Bern. Er hatte
die East Carolina University besucht, und während meines ersten
Jahres bei der Firma erkundige er sich öfter, wie ich mit dem Kleinstadtleben zurechtkäme. Es sei schon ein bisschen gewöhnungsbedürftig, antwortete ich jedes Mal. Während meines Jurastudiums hatte ich mir natürlich vorgestellt, dass ich später in einer Großstadt
arbeiten würde wie meine Eltern, doch dann hatte ich in dem Provinzstädtchen, in dem Jane aufgewachsen war, eine Stelle angenommen.
Ich bin ihretwegen hierher gezogen, das stimmt, aber ich kann sagen, dass ich diese Entscheidung keinen Tag bereut habe. New Bern
hat zwar keine Universität und keine Forschungseinrichtungen, aber
was der Stadt an Größe abgeht, macht sie durch Charme und Charakter wett. Sie liegt neunzig Meilen südöstlich von Raleigh, der Hauptstadt North Carolinas, in einer flachen Küstenlandschaft zwischen
großen Weihrauchkiefernwäldern, am Zusammenfluss von zwei breiten, trägen Strömen, dem Trent River und dem Neuse River. Dieser
fließt am Rand der Stadt entlang, und sein brackiges Wasser scheint
fast stündlich die Farbe zu wechseln - am frühen Morgen schimmert
es bleigrau und verwandelt sich an sonnigen Nachmittagen in ein
leuchtend blaues Band, um dann bei Sonnenuntergang zu einem müden Braun zu wechseln. In den Nachtstunden wirkt es so schwarz
wie flüssige
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