Ein Tag wie ein Leben
Kohle.
Mein Büro befindet sich in der Innenstadt, nicht weit von dem historischen Stadtkern entfernt, und nach dem Mittagessen schlendere
ich gern durch die alten Straßen. New Bern wurde 1710 von Schweizer und Rheinpfälzer Einwanderern gegründet und ist die Zweitälteste Stadt in North Carolina. Als ich hierher zog, standen viele der alten Gebäude leer und waren vom Verfall bedroht. Das hat sich in den
letzten dreißig Jahren grundlegend geändert. Nach und nach haben
neue Besitzer die ehrwürdigen Wohnhäuser hergerichtet und ihnen
ihre alte Schönheit zurückgegeben, und inzwischen bekommt man,
wenn man die Gehwege entlanggeht, das Gefühl, dass immer ein
Neuanfang möglich ist, selbst da, wo man es am wenigsten erwartet.
Wer sich für Architektur interessiert, kann uralte Butzenscheiben
entdecken, kunstvolle Messingbeschläge an den Türen und geschnitzte Sockelverkleidungen, die den breiten Dielen im Inneren der
Häuser entsprechen. Hübsche, elegante Veranden blicken auf die
schmalen Straßen hinaus und erinnern an eine Zeit, als die Bewohner
abends immer draußen im Freien saßen, um endlich eine kühle Brise
zu erhaschen. Eichen und Hartriegel spenden Schatten, und in jedem
Frühjahr blühen Tausende von Azaleen. New Bern ist wirklich einer
der schönsten Orte, die ich kenne.
Jane ist am Stadtrand aufgewachsen, in einem ehemaligen Farmhaus, das vor fast zweihundert Jahren gebaut wurde. In den Jahren
nach dem Zweiten Weltkrieg hat Noah das Haus mit sehr viel Sorgfalt und Liebe renoviert, und wie viele der historischen Gebäude hier
hat es seinen Glanz und seine Würde bewahrt, wenn nicht sogar gesteigert.
Gelegentlich statte ich dem alten Haus einen Besuch ab. Ich fahre
nach der Arbeit oder auf dem Weg zum Einkaufen kurz dort vorbei,
aber es kommt auch vor, dass ich extra deswegen eine kleine Spazierfahrt unternehme. Diese Ausflüge gehören zu meinen kleinen
Geheimnissen - Jane ahnt nichts davon. Sie hätte bestimmt nichts
dagegen einzuwenden, aber es bereitet mir irgendwie Vergnügen, die
»Hausbesuche« für mich zu behalten. Ich komme mir dann fast vor
wie ein Mann mit einer geheimen Mission, aber gleichzeitig fühle ich
mich auch mit allen anderen Menschen verbunden, denn ich weiß ja,
dass jeder von uns seine Geheimnisse hat, auch meine Frau. Wenn
ich vor dem Haus stehe, frage ich mich oft, was Jane wohl vor mir
verbirgt.
Es gibt nur einen einzigen Menschen, der Bescheid weiß. Er heißt
Harvey Wellington und ist der Nachbar, der auf dem angrenzenden
Grundstück wohnt, ein Schwarzer, etwa in meinem Alter. Schon seit
Anfang des letzten Jahrhunderts lebt seine Familie dort, und ich
weiß, dass er Prediger an der hiesigen Baptistenkirche ist. Er war mit
allen Mitgliedern von Janes Familie gut befreundet, vor allem mit
Jane, aber seit Allie und Noah nach Creekside gezogen sind, besteht
unser Kontakt hauptsächlich aus den jährlichen Weihnachtskarten.
Ich sehe ihn oft auf seiner schiefen Veranda stehen, aber auf die Entfernung kann ich sein Gesicht nicht richtig erkennen und habe deshalb keine Ahnung, was er denkt, wenn er mich vor dem verlassenen
Gebäude entdeckt.
Das Haus selbst betrete ich nur selten. Es ist fest verriegelt, seit Noah und Allie nicht mehr dort leben. Die Möbelstücke sind mit Laken
verhängt und sehen aus wie Halloween-Gespenster. Nein, ich laufe
lieber auf dem Grundstück herum. Ich gehe die Kieswege entlang,
folge dem Zaun, berühre die Pfosten, gehe hinter das Haus, wo der
Fluss vorbeifließt. Er ist hier draußen schmaler als weiter stadteinwärts, und es gibt Momente, in denen das Wasser fast still zu stehen
scheint. Dann sieht es aus wie ein silberner Spiegel, der den Himmel
reflektiert. Manchmal stehe ich am Ufer, betrachte die Wolken, die
sich im Wasser spiegeln, und lausche dem Wind, der sanft mit den
Blättern über mir spielt.
An anderen Tagen gehe ich zu der Laube, die Noah nach seiner
Hochzeit gebaut hat. Da Allie immer eine besondere Vorliebe für
Blumen hatte, legte Noah für sie einen Rosengarten in Form von
konzentrischen Herzen an, in deren Mitte sich ein dreistöckiger
Springbrunnen befindet. Vom Elternschlafzimmer aus blickt man
direkt auf diese wunderschöne Anlage. Noah hatte mehrere Scheinwerfer installiert, damit man die Blumen auch bei Nacht sehen konnte. Die Wirkung war atemberaubend. Die selbst gebaute Laube
grenzt an diesen Rosengarten, und Allie verwendete auf ihren Bildern immer wieder diese beiden Motive. Allie
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