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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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diesem Anliegen, nichts.
    In ganz kleinen Schlucken trank Herman den Aperitifwein, der etwas alt schmeckte. Er nickte zustimmend, von Métildes schwärmerischem, fast durchscheinendem Gesicht bezaubert. Er dachte, daß er sagen könnte: »Ich bin Lehrer, vielleicht werde ich in Paris etwas tun können …« Doch aus Unsicherheit ließ er den Moment verstreichen.
    Charlotte murmelte: »Mir geht es gut, so wie es ist.«
    »Nein, nein«, erwiderte Métilde und seufzte sanft, »gewiß nicht.«
    Sie strich ihr über den Kopf und sagte: »Wie kann man ihr nur die Notwendigkeit verständlich machen, es zu etwas zu bringen, Monsieur Herman?«
    Er blätterte in einem Leitfaden über Programmiersprachen, lächelte unbeholfen und zuckte mit den Achseln. Manchmal peitschte ein Regenschauer gegen die Fensterscheibe und zwang sie, die Stimme zu erheben. Von Métildes vollem, glatten Gesicht betört, fragte er sie mit neugewonnenem Vertrauen, ob sie denn meine, es sei seine Pflicht, bei Gilberts Tennisspiel gegen den Landrat mitzumachen.

ZWEITER TEIL

1 Herman ging an der stets weit offenstehenden Tür von Alfreds Zimmer vorbei, in dem Charlotte sich eingerichtet hatte, und sah die zahllosen Kassetten auf dem Bett liegen, die diese hörte, sobald sie eine Ruhepause hatte, neben den Zeitschriften voller Kochrezepte oder verschiedenster Klatsch- und Skandalgeschichten über Leute, die Herman nicht einmal dem Namen nach bekannt, Charlotte aber vertraut waren, und sie las diese Geschichten mit einer Leidenschaft, die sie, wie Herman sich leicht verdrossen sagte, für nichts anderes aufbrachte. Sie stand sehr früh auf und brachte dem Vorsteher sein Frühstück hinauf, der ein Morgenmuffel war und oft etwas an dem auszusetzen fand, was sie brachte. Er ging ins Rathaus, und Charlotte machte die Zimmer, ohne daß Herman eine Möglichkeit fand, sich ihr zu nähern, wie er es gern gewollt hätte: Sie arbeitete mit großer Beflissenheit, denn sie fürchtete ihre Mutter – sie verlor kein Wort darüber, mochte es aber nicht, wenn er ihr auch nur Fragen stellte, die sie zwangen, den Staubsauger abzustellen, um ihm zuzuhören, oder beim Putzen eines Waschbeckens oder Glattstreichen eines Bettüberwurfs ein paar Sekunden innezuhalten. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte die Mutter Charlotteermuntert, sich so lange mit Herman zu unterhalten, wie er es wünschte. Aber zur Zeit des Zimmerservice schlich sie in ihrem leichten Schritt heran, stellte sich lächelnd, liebenswürdig hinter Herman und erteilte Charlotte ihre Anweisungen, ohne sie aus den Augen zu lassen, mit einer Stimme, die Herman, ob er wollte oder nicht, überaus angenehm fand. Und da er sie noch nicht auf den überhöhten Preis der Pension angesprochen hatte und ihr gegenüber befangen war, zog er sich bald zurück, langsam und widerstrebend. Er ging in sein eigenes Zimmer und warf einen Blick aus dem Fenster. Der Regen wütete, und von den Hügeln in der Ferne war nichts mehr zu erkennen. Es kam vor, daß er nicht einmal mehr das Gesicht der Alten gegenüber sehen konnte, so tief hing der graue Himmel, doch es war ihm inzwischen egal, beobachtet zu werden. Denn verhielt er sich etwa in besonderer, ausgefallener Weise? Er benahm sich nie so, daß nicht das ganze Dorf unablässig den Blick auf ihn hätte richten und beständig zufrieden mit dem Kopf hätte nicken können.
    Er döste etwas, um die Zeit totzuschlagen. Er ging auch an Gilberts Zimmer vorbei, doch stets rasch und ohne hinzuschauen. Und wenn er den Eindruck hatte, daß Gilbert da war, auf dem Bett lag und rauchte, stürzte er mit einem Satz zur Gemeinschaftstoilette amEnde des Flurs und schloß sich darin ein, bis Gilbert gegangen war.
    Der Vater grüßte Herman und meinte seufzend, um etwas zu sagen: »Unser Gilbert ist arbeitslos, schon seit zwei Jahren geht das so, was wollen Sie im Dorf schon für ihn finden?«
    Die Mutter fügte bekräftigend hinzu: »Es ist ein Elend, ihn so herumhängen zu sehen. Zum Glück hat er seine Wochenendbeziehungen in L., irgend etwas wird sich daraus schon ergeben.«
    Doch die Eltern, stolz auf das hübsche Gesicht ihres Sohnes, fanden es undenkbar, daß man ihm einen untergeordneten Posten anbot. Sie strebten für ihn eine Handelshochschule an und empörten sich darüber, daß man für die Aufnahme von ihm das Abitur verlangte, das er nicht hatte. Mittlerweile war es für sie eine Frage der Ehre, zu versichern, Gilbert würde auch ohne hineinkommen, durch die Fürsprache seines Freundes

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