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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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wisse, doch diese Begegnung werde ihm dann nicht mehr Freude bereiten, als wenn er im nächsten Sommer die zahlreichen Pariser Feriengäste wiedersehen würde, in den Straßen des Dorfes, in die sie nur zum Einkaufen hinunterkamen (diese übertriebenen, extravaganten Lebensmittelausgaben). Die Frau und das Kind würden ihn an ihr Pariser Leben erinnern, und Alfred war überzeugt, aus lauter Verdruß und Ekel vor diesem Leben würde Herman sogar seinen Blick von ihnen abwenden.
    Tja, warum nicht? dachte Herman, während er versuchte, das Gesicht der Alten gegenüber, der Mutter der aktuellen Metzgerin, zu erkennen.
    Die Ankündigungen des Vorstehers verletzten ihn nicht mehr und interessierten ihn kaum. Er wußte jetzt, daß Alfreds Haar gefärbt oder gebleicht war, zu jenem extremen Blond, das man hier überall sah. Doch die Augenbrauen blieben schwarz und dicht, ebenso wie die Haare, die seine Handgelenke und Hände teilweise bedeckten. Aus reiner Freundschaft bot Alfred Herman an, sich morgens von Charlotte das Frühstück bringen zu lassen, so wie er selbst, ohne daß es ihn mehr kosten würde.
    »Nein, nein, niemals«, antwortete Herman, den dieses Angebot das volle Gewicht von Alfreds Fürsorge spüren ließ, denn dieser hätte gern gehabt, daß er genauso von Charlotte profitierte wie er, und vielleicht wäre er um Hermans Komfort und Vergnügen willen sogar bereit gewesen, die Mutter für Charlottes zusätzliche Mühe heimlich zu bezahlen.
    Aber warum nur? fragte sich Herman matt.
    Um ihn dazu zu bringen, im Dorf zu bleiben, indem er mehrmals täglich in Schwärmereien über das großartige Leben ausbrach, das man hier hatte – aber er brauchte weder Alfred noch alles, was dieser für seinen vollkommenen Seelenfrieden tat, um dem herbstlichen Dorf Gerechtigkeit widerfahren zu lassen fürdas, was es ihm gab: die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher Tätigkeit und geistiger Arbeit; und so kam Herman in seinem müßigen Dämmerzustand, während er mit halbgeschlossenen Augen das verschlungene Blümchenmuster an der Zimmerdecke betrachtete, zu dem Schluß, Energie sei keineswegs etwas Notwendiges, ebensowenig wie jene Form von Glück, bestehend aus vielfältigen Betätigungen, zarten Aufmerksamkeiten, einem ansehnlichen, diskreten Wohlstand, die er bis vor kurzem mit Rose im vierzehnten Arrondissement von Paris genossen hatte. Aber er dachte auch nicht, dieses Pariser Leben verdiene es, ihm entzogen zu werden, er verachtete es nicht. Er fühlte sich nur, zumindest vorläufig, unwiderstehlich angezogen von der Möglichkeit, sich der Faulheit hinzugeben, einer Faulheit ohne Bewußtsein und ohne jede Unwürdigkeit. Charlotte fand nicht, man müsse sie vor irgend etwas retten, aber hatte sie damit recht? Obwohl dies alles andere als sicher war, wuchs seine Zuneigung für sie.

    2 Mit Métildes Hilfe hatte er sich auf die Liste der Gesuchsteller beim Bürgermeister setzen lassen, nachdem er begriffen hatte, daß er ihn nicht würde treffen können, ohne zu warten, bis er an der Reihewar. Jetzt hatte er einen Termin, und der Tag war gekommen. Er schleppte sich müde ins Rathaus, denn er dachte inzwischen nicht mehr, daß seine Angelegenheit es wert war, als wichtig und dringlich eingestuft zu werden. Hatte man ihm nicht schon zur Genüge zu verstehen gegeben, wie wenig Interesse sie weckte? Nachdem er sich am Empfang angemeldet hatte, ging er allein zum Büro des Bürgermeisters hinauf, das den ganzen ersten Stock einnahm. Dort müßte er sich noch der Sekretärin vorstellen, sie würde prüfen, ob seine Bitte um eine Unterredung begründet war, und ihn zu gegebener Zeit hineinführen. Herman erkannte sie sofort wieder: Es war seine ehemalige Nachbarin auf der Anhöhe, die Bäuerin, bei der er sich als erster nach Rose erkundigt hatte. Sie lächelte ihm breit zu, ohne Herzlichkeit, und teilte ihm mit klarer Stimme mit, sie kenne den Grund seines Besuchs beim Bürgermeister und sei nicht unbedingt der Meinung, der Fall rechtfertige, daß man ihn störte, aber sie würde Herman unter Berücksichtigung gewisser freundschaftlicher Bande, die er hier unter den Rathausangestellten geknüpft hatte, doch vorlassen.
    »Arbeiten Sie denn nicht mehr da oben, auf dem Hof?« fragte Herman, dem dieses Wiedersehen nicht angenehm war.
    Er erinnerte sich, wie er in ihrer Gegenwart die Geduld verloren hatte, und schämte sich.
    »In der kalten Jahreszeit komme ich ins Rathaus herunter«, erklärte sie knapp.
    Dann stand sie

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