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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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und Wege, sich selbst zu übertreffen. Ansonsten war das Zimmer mit ein paar alten, von den Bäckern bereitgestellten Möbeln ausgestattet, einem Bett mit Daunendecke und gehäkelten Vorhängen. Charlotte ließ sich halb auf das Federbett sinken und seufzte glückselig auf.
    »Gleich schläft sie ein«, sagte Métilde.
    Sie stürzte auf Charlotte zu, zog sie hoch und setzte sie an die Bettkante. Charlotte schnitt eine kaum merkliche Grimasse. Doch sie blieb brav in der von Métilde bestimmten Haltung sitzen, faltete die Hände auf den Oberschenkeln, und vor Erschöpfung oder Trägheit öffneten sich ihre Lippen leicht. Während Métilde mit präzisen Schritten zwischen Spüle und Schrank hin- und hertrippelte und Gläser und Flaschen hervorholte, erklärte sie Herman mit ihrer klaren Stimme, die nie die geringste Ermüdung erkennen ließ, sie studiere seit zwei Jahren allein und wie versessen, um eines Tages eine Stelle als Chefsekretärin in L. zu ergattern, denn sie habe nicht vor, weit gefehlt, als Empfangsdame im Rathaus des Dorfes zu enden, ebensowenig wie als Sommerangestellte im Fremdenverkehrsamt, sondern tatsächlich, es kraft ihrer Arbeit und ihres Willens bis nach L. zu schaffen, wo sie ein paar Firmen kenne. Sie plane, bald die Prüfung für ihren Abschluß als Bürokauffrau abzulegen, dafür würde sie im Laufe des Aprils nach L. fahren. Sie errötete leicht, während sie redete, und wandte sich ab: Eine Mischung, so sagte sich Herman, aus Stolz und Bangigkeit.
    Er beglückwünschte sie, obwohl er sich beim Anblick der Bücher mit den trockenen Titeln, den Umschlägen mit Fotos von Computern und energischen Gestalten plötzlich erschöpft fühlte, wie schon zuvor, als von dem Tennisspiel die Rede gewesen war. Er hätte gern die Nase in dem Federbett vergraben, das einen leichten, sehr leichten Dachbodengeruch verströmte. Doch es rührte ihn, daß Métilde so aufgeregt war. Er wiederholte, er wünsche ihr den schnellstmöglichen Erfolg.
    »Oh, ja«, sagte Charlotte.
    Und sie beherrschte sich sichtlich, um sich nicht auf das Bett zurückfallen zu lassen. Métilde schenkte den Aperitifwein aus und setzte sich neben Charlotte. Sie erklärte Herman, was sie gemeint hatte, als sie vorhin davon sprach, Charlotte zur Vernunft zu bringen. Es handele sich um nichts Geringeres als darum, diese dazu zu bringen, ihr gegenwärtiges Leben aufzugeben, sie davon zu überzeugen, den gleichen Weg wie Métilde einzuschlagen, die ihrerseits zu den größten Entsagungen bereit war, um sie zu unterstützen und zu führen, sie dazu zu bewegen, einen Beruf zu erlernen, wie Métilde es tat, um schließlich ein freier, erfüllter Mensch zu werden, weit weg vom Dorf, wo sie vor schlechten Einflüssen ersticke. Charlotte sei, sagte Métilde, durch ihr sanftmütiges, entgegenkommendes Wesen so veranlagt, daß sie sich nicht gegen die Schliche wehren könne, die verschiedene Seiten gebrauchten, um sie dazu zu bringen, den niedersten und vor allem ihren eigenen zuwiderlaufenden Interessen zu dienen, und die zu sehen sie sich aus reiner Trägheit weigerte. Métilde jedoch kenne Charlottes Interessen. Sie beugte sich mit etwas fiebrigem Blick zu Herman hinüber und gestand unvermittelt, sie würde ihre eigenen Ziele liebend gern opfern, um ihre Freundin mit allen Kräften zu unterstützen, wenn Charlotte sich nur entschlösse, ihrem Rat zu folgen. Alles, was sie gelesen, gelernt, alle Mühen, die sie in den letzten zwei Jahren auf sich genommen habe, würde sie Charlotte mit Freuden schenken, wenn diese ihr endlich sagte, sie sei bereit, ihre Lehren anzunehmen, es sei höchste Zeit. Sie könnte Charlotte sehr schnell die Grundbegriffe des Sekretariats beibringen. Dann würde man sie auf den Abschluß als Bürokauffrau vorbereiten, ein wahrer Schlüssel, so Métilde, zu einer Freiheit, die Charlotte zu geben nie irgend jemandem eingefallen sei, die diese selbst aus Schwäche nicht einfordere, ja sich nicht einmal vorstellen könne, und die sich im regen, fleißigen Leben einer Chefsekretärin entfalten würde, zum Beispiel in der Steinmetzerei Bodin in L., deren Telefonistin Métilde kenne. Und wenn sich Charlotte von Zeit zu Zeit im Dorf zeigen würde, dann am Steuer ihres eigenen Wagens, und es würde nichts von ihrverlangt werden, sie würde in ihrem eigenen Zimmer schlafen und mit ihrem Geld alles bezahlen, was sie brauchte. Das war es, was Métilde für Charlotte vorsah. Und alle ihre eigenen Erfolge bedeuteten ihr, verglichen mit

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