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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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Lemaître, der in L. eine wichtige Persönlichkeit war. Sie schienen auch die Vorstellung übernommen zu haben, Herman würde auf irgendeine Weise Gilberts Karriere befördern, auch wenn sie über die Tennisgeschichte nicht im Bilde waren. Sie überhäuften ihn, vor allem die Mutter, mit kleinen Aufmerksamkeiten, Herman war jedoch nach wie vor entschlossen, am Ende des Monats nur die Hälfte dessen zu bezahlen, was manvon ihm verlangen würde. Aus diesem Grund mied er sie trotz all ihrer bestrickenden Gunstbezeugungen.
    Er drehte sich den ganzen Tag im Hotel im Kreis, ging grundlos hinauf und wieder hinab, versuchte Charlotte näherzukommen, brachte Zeit damit zu, sich vor Gilbert und der Mutter zu verstecken. Die Gäste, denen er begegnete, überwiegend Handelsvertreter, grüßte er ebenso förmlich, wie sie selbst grüßten. Regen und Kälte hielten ihn davon ab, aus dem Haus zu gehen. Und er führte mit Charlotte wiederholt belangloseste Unterhaltungen, ohne daß es ihn verdroß, er paßte sich dem einfachen Ablauf ihrer Gedanken an und drückte hier und da freundschaftlich den einen oder anderen ihrer Körperteile. Charlottes ruhiges Leben war von nichts anderem als den Haushaltstätigkeiten erfüllt, der Lektüre ihrer Zeitschriften und dem Dienst am Vorsteher Alfred, der im übrigen anspruchsvoll und launenhaft war. Was sollte sie sonst brauchen? Ihr Aussehen war ihr gleichgültig, und sie trug immer die gleichen, wenig kleidsamen Sachen.
    Sie bezaubert den Teil meiner selbst, der am wenigsten taugt, dachte Herman, das Willenlose und Faule in mir. Die Stunden fließen dahin, bar jeder Energie, jedes Gedankens, und es ist alles einerlei, die kleinen Schändlichkeiten wie die guten Regungen. Wie erholsam dieses Leben ist! Wie erholsam das Dorf!
    Um halb sieben raffte er sich auf und begab sich in die Eingangshalle des Rathauses, um auf Métilde zu warten. Sie gingen auf ein Glas Aperitifwein zu ihr nach Hause, redeten dabei über Métildes Erfolgsaussichten; sie redete auch über die Möglichkeit, Charlotte zu retten, wofür Herman sich weniger interessierte, denn er glaubte seinerseits nicht, daß man diese aus ihrer Benommenheit reißen könnte oder sollte. Eine tatkräftige Spannung hielt Métildes Schultern immer leicht hochgezogen. Und wenngleich Herman ihr die größte Zuneigung entgegenbrachte, ließ ihn seine wachsende Müdigkeit ihr gegenüber von Tag zu Tag weniger gesprächig werden.
    Was bedeuteten schon die Steinmetzerei Bodin, dachte er verschwommen, und der Abschluß als Bürokauffrau und diese ganze muntere, tägliche Rührigkeit? Puh!
    Er war kurz davor, zu glauben, das karge, reglose Winterschlafleben des Dorfes sei das einzig Wahre. Doch er zwang sich noch zu bedenken, daß Métilde mit ihrem ehrlichen und fleißigen reinen Willen in ihm die wertvollsten Instinkte wachhielt, daß ihre Gegenwart ihm guttat, anders als der unterschwellig schädliche Einfluß von Charlotte. Er blätterte in Métildes Büchern, bemühte sich, ihr ein paar hilfreiche Ratschläge zu geben. Lieber hätte er sich jedoch aufdas Federbett fallen lassen und wäre stundenlang liegengeblieben, still und ohne zu denken.
    Gilbert, der seit langem Métildes Liebhaber war, kam dazu. Er schenkte sich reichlich Portwein ein und schwadronierte, allzeit gut gelaunt und zuversichtlich. Und Gilbert und Métilde redeten davon, das Dorf in Richtung der betriebsamen Kreisstadt L. zu verlassen, wobei Gilbert sich selbstgefällig als Student beschrieb, der ohne Abitur an der Handelshochschule aufgenommen worden wäre, während sie bescheiden mit ein paar hoffnungsvollen Worten das Chefsekretariat der Firma Bodin erwähnte, um sodann auch darauf zu verzichten, denn bevor sie selbst ans Weggehen dachte, wollte sie Charlotte aus ihrer nichtigen Existenz herausholen.
    Ja, das Dorfleben in der kalten Jahreszeit ist ein gutes Leben, dachte Herman, wenn es tatsächlich keine Möglichkeit mehr gibt, sich zu betätigen, und eine Langeweile ohne Bewußtsein oder Schwermut den Geist verlangsamt, dann erscheint L. im Sturm unerreichbar fern – damit muß man sich abfinden und im Kokon des häßlichen kleinen Zimmers mit den geblümten Tapeten ins Ruhestadium eintreten, in die leicht blöde Trägheit einer Larve. Was für ein gutes Leben das war!
    Er hütete sich jedoch, Gilbert und Métilde zu unterbrechen, die in Fahrt kamen und mit erbitterter,nervöser Stimme über das Dorf herzogen, das ihnen im Vergleich zu dem so weit überlegenen L.

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