Ein Tag zu lang
plötzlich verhaßt wurde. Im Dorf konnte Gilbert sich weder amüsieren noch seine Vorteile als attraktiver junger Mann voll nutzen. Métilde konnte sich im Dorf beruflich nicht weiterentwickeln, sie konnte nur die Theorie eines durch einen hochmodernen Job bereicherten und befreiten Lebens erlernen, welches in ihren Augen sehr gut versinnbildlicht wurde durch die Vorstellung ihrer selbst an einem Computer, in den sie die Einnahmen und Ausgaben der Firma Bodin eintippte. Im Dorf hatte Métilde keine andere Perspektive als den Erwerb von Bändern an ihrer Bluse, mit allem, was daraus folgt. Das befürchtete sie, wie sie sagte, für ihre liebe Charlotte.
Ach, warum denn nicht? dachte Herman, der in tiefer Mattigkeit versank.
Um das Thema zu wechseln, begann er unvermittelt von der Angelegeheit seiner verschwundenen Familie zu reden und fragte, was wohl aus ihr und aus ihm selbst werden würde. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er von einem trockenen Schluchzen geschüttelt. Erinnerte er sich überhaupt noch genau an die Gesichtszüge von Rose und ihrem kleinen Jungen? Nein, ihm war kaum mehr als der Vorname der beiden im Gedächtnis geblieben. Er wußte ganz genau, welchzerstreuter, gleichgültiger Ausdruck Métildes Blick gleich stumpf werden ließe, er wußte, wie das kleine »Bah!« klänge, das Gilberts plötzlich etwas schlaffen Lippen entweichen würde.
»Es wird kommen, wie es kommen muß«, sagte unweigerlich der eine oder die andere.
Sie zeigten sich nicht verlegen, höchstens leicht überrascht darüber, wie Herman mit einer Beharrlichkeit, die ihnen vielleicht unschicklich erschien, auf ein abgeschlossenes Thema zurückkam.
Alfred wäre nicht mit mir zufrieden, sagte sich Herman.
Ein einziges Mal ließ Métilde jedoch ein Wort fallen, das Herman hin und her wendete, ohne es in einen klaren Zusammenhang mit seiner Angelegenheit bringen zu können, auch wenn sie es tatsächlich in bezug darauf geäußert hatte. Sie sprach vom häufigen Vorkommen von Avataren in dieser feuchten Gegend. Gilbert gähnte, woraufhin Métilde ihre gelangweilte Miene ablegte und erzählte, sie sehe in den lokalen Kleinanzeigen immer wieder, daß Bürokaufleute mit Abschluß gesucht würden, und nein, mit diesem Diplom in der Tasche sei es kein Problem, in L. eine Stelle mit einem Nettoverdienst von achttausend Franc zu finden.
Herman zwang sich, seinen Aperitifwein auszutrinken, dann verabschiedete er sich. Trotz seiner Mattigkeit war er Métilde dankbar, ihn durch ihr heiteres Geplauder und den hübschen Anblick ihrer Wangen, die stets erröteten, sobald von dem Abschluß usf. die Rede war, für eine Stunde abgelenkt zu haben.
Jetzt dachte er unter seinem Regenschirm über die Avatare nach. Doch es fiel ihm zunehmend schwer, länger und aufmerksam zu überlegen, da er inzwischen so wenig Gelegenheit hatte, sich darin zu üben. Schon ertappte er sich wieder dabei, seine Gedanken schweifen zu lassen oder in aller Ruhe die um diese Uhrzeit erloschenen Schaufenster zu betrachten, sich die Ladeninhaberinnen zu Hause vorzustellen, wobei er sich fragte, ob sie es sich im Familienkreis erlaubten, ihrem traditionell eingeschnürten, plattgedrückten Busen etwas mehr Freiheit zu lassen. Nach acht Uhr waren die Straßen menschenleer. Aus den schmalen, niederen, schwach erleuchteten Fenstern zwischen dem Fachwerk drang kein Laut, nicht einmal Fernsehgeräusche. Herman beeilte sich, nach Hause zu kommen, und es war ihm beinahe peinlich, dadurch aufzufallen, daß er um diese Zeit draußen war.
»Ach, ich habe schon auf Sie gewartet«, sagte Alfred dann immer, auf Hermans Bett sitzend, zehn Minuten vor dem Abendessen.
»Ich bin bei Métilde vorbeigegangen«, antwortete Herman.
Aber Alfred wußte ohnehin alles, was er tat, so wie jederman im Dorf, nahm Herman an. Dann mußte er, was ihm mit der Zeit und mit zunehmender Gleichgültigkeit allerdings immer weniger schwerfiel, die stürmischen Freundschaftsbekundungen Alfreds über sich ergehen lassen, der von ihm hören wollte, daß er sich im Dorf wohlfühlte und sich zu einem echten Dorfbewohner entwickelte, ohne Sehnsucht nach Paris trotz des ewigen Regens, der wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten und des gleichförmigen, dunklen Himmels, der die Hügel ringsum verhüllte. Und wenn Herman gefügig sein Wohlbefinden und seine relative Seelenruhe bekannt hatte, versprach Alfred ihm triumphierend, er werde Rose und das Kind wiederfinden, vielleicht schon bald, obwohl er selbst nichts
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