Ein Tag zu lang
auf, um die Bürotür zu öffnen, meldete: »Monsieur Herman«, und winkte ihn anmutig hinein.
In dem sehr großen und wie unten hochmodern eingerichteten Raum saß der Bürgermeister hinter einer großen Glasplatte, auf der keinerlei Papiere oder Stifte lagen. Doch sein würdevolles Gesicht, seine ernste Haltung schüchterten Herman etwas ein, und er zwang sich, seine eigene Schwere abzuschütteln.
»Ich weiß, was es über Sie zu wissen gibt«, sagte der Bürgermeister liebenswürdig. »Unklar ist mir hingegen, was Sie von mir erwarten.«
Herman habe nur bei der höchsten Autorität des Dorfes vorstellig werden wollen, sich vergewissern, ob seine Geschichte auch wirklich bekannt sei, kurz, sich gemäß den Grundregeln der Höflichkeit verhalten – das sagte er ihm. Im übrigen würde er, falls der Bürgermeister über seinen Fall eine Meinung habe, diese gerne hören. Und er setzte sich auf einen Metallstuhl auf seiner Seite des Tischs, durch den hindurch ihrer beider Oberschenkel leicht verzerrt und vergrößert wirkten. Der Bürgermeister seufzte, als schicke er sichan, schwierige Dinge auszusprechen. Das Folgende stieß er dann in einem Zug aus, ohne Herman anzusehen, jedoch durchgängig in jenem etwas gezierten, leutseligen und mondänen Ton, den abzulegen ihm wohl nie in den Sinn kam, vielleicht konnte er es auch gar nicht. Es sei tatsächlich für alle hier klar, erklärte er, sogar für Alfred, auch wenn Herman aus dessen Mund vielleicht Anderslautendes hörte, es sei klar, daß Herman seine Frau und sein Kind nie mehr so wiedersehen würde, wie er sie gekannt hatte, in ihrer gewohnten, unveränderten Gestalt und in der Sprache redend, die sie zur Zeit ihres normalen Daseins benutzt hatten. Nein, jegliche Hoffnung, seine Frau und seinen Sohn in dieser Erscheinungsform wiederzufinden, müsse Herman aufgeben. Es gab Beispiele vergleichbarer Abenteuer. Es passierte jedesmal das gleiche. Und Hermans Fall war banal. Niemand hier konnte sich darüber wundern, was ihm passierte, und sich erst recht nicht lange damit aufhalten, und wenn man die beiden Verschwundenen in den Straßen des Dorfes oder, wer weiß, auf den Wegen der Anhöhe wiedersähe, dann würde man sie lediglich grüßen, ohne Furcht, Überraschung oder besondere Freude. Vielleicht würde man es Herman nicht einmal mitteilen. Denn letztlich war es von keinerlei Interesse.
»Aber werden Sie denn lebendig sein?« fragte Herman mit leicht bebender Stimme.
»In gewisser Weise«, antwortete der Bürgermeister.
Er schaute auf seine Uhr. Herman begriff, daß die Dauer der Unterredung streng begrenzt war. Er durfte nicht versuchen, das war ihm sofort klar, etwas von der dem nächsten Gesuchsteller zugeteilten Zeit zu beanspruchen, er mußte sich mit dem begnügen, was ihm gesagt würde, und geduldig und höflich bleiben.
»In gewisser Weise«, wiederholte der Bürgermeister.
Als gewähre er Herman eine große Gunst, führte er aus: Lebendig würden sie auf die Art jener Frau sein, die von ihrem Fenster aus die Zimmer des Relais beobachte und die Alfred gegenüber Herman sicher als »die Mutter der aktuellen Metzgerin« bezeichnet habe. Was Alfred nicht gesagt habe und der Bürgermeister sich hiermit nachzuholen erlaube, in der Überzeugung, daß es ihm ohnehin nicht mehr lange verborgen geblieben wäre, war, daß dieses Gesicht mit einiger Wahrscheinlichkeit vielmehr das von Alfreds Ehefrau war, die vor vierzehn Jahren in den Ferien mit ihm ins Dorf gekommen war und die man seitdem nie anders als in dieser Rolle und dieser Situation wiedergesehen hatte, Tag und Nacht freundlich auf die Rückseite des Relais blickend, durch ein winziges Fenster, das tatsächlich über der Metzgerei lag undanscheinend zu einem unbewohnten Zimmer des Hauses der Metzger gehörte, einer Art Rumpelkammer. Aber niemand hatte es für nötig gehalten, letztere zu fragen, was es mit diesem Zimmer auf sich hatte. Das sympathische und wenig störende Gesicht oder Wesen hatte sich bei ihnen niedergelassen, benahm sich dort gut, kannte die Sitten des Dorfes, das war alles, worauf es ankam. Man hatte die Gesichtszüge von Alfreds Frau erkannt, deren Verschwinden dieser damals im übrigen gemeldet hatte; etwa drei Wochen später war sie an dem Fenster erschienen, frisch und unaufdringlich. Wer hätte es für angebracht gehalten, Alfred auch nur darauf anzusprechen? Er selbst zog es vor, Stillschweigen darüber zu bewahren, daß es sich um seine Frau handelte, um deren Gesicht. Das
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