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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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jedoch so wäre und er Geld bräuchte, würde der Bürgermeister dafür sorgen, daß er den Kindern der Kaufleute Mathematikstunden geben könnte, Privatstunden seien im Dorf zur Zeit sehr gefragt, vor allem wegen des damit verbundenen kleinen Prestigegewinns.
    »Vorerst wünschte ich nur, ich könnte bei der Bank Geld abheben«, sagte Herman.
    »Nun, dann bitten Sie Gilbert, Sie nach L. zu fahren.«
    Der Bürgermeister stand auf. Wahrscheinlich kannte er die Einzelheiten seines Lebens im Dorf besser als Herman selbst.
    Zurück im Hotel legte er sich auf sein Bett und dämmerte allmählich ein, als Charlottes Mutter hereinkam und ihm sagte, er werde unten am Telefon verlangt. Er ging in Socken hinunter, er lief jetzt im Relais immer so herum, weil er zu faul war, seine Schuhe anzuziehen.
    Es war der Direktor des Pariser Gymnasiums, an dem Herman seit fast zwanzig Jahren unterrichtete. Dieser schwieg verlegen, während der Direktor sich in Klagen darüber erging, wie schwierig es gewesen war, ihn ausfindig zu machen. Es war kurz nach zehn Uhr.Herman hörte am anderen Ende der Leitung den Pausenlärm. Ein wehmütiger Stich ins Herz ließ ihn den Hörer ganz fest an sein Ohr drücken und störte seine Aufmerksamkeit. Man hatte sich Sorgen gemacht, war am ersten Schultag über sein Fehlen überrascht gewesen. Was sollte man denken, welche Entscheidung treffen? Herman erklärte mit müder Stimme, es käme für ihn nicht in Betracht, seine Arbeit wieder aufzunehmen, bevor er Rose und das Kind wiedergesehen hätte, was der Direktor, dessen Ton ernst und ehrerbietig wurde, sehr gut verstand. Er wußte dank einer kurzen Meldung des Lokalblatts, die von einer Pariser Tageszeitung übernommen worden war, über Hermans Angelegenheit Bescheid. Im übrigen waren derartige Geschichten in Paris bekannt, und der Direktor zeigte sich darüber bekümmert, jedoch nicht verblüfft. Er hoffte nur, Herman würde zurück sein, bevor man gezwungen wäre, einen Ersatz für ihn zu suchen. Er sprach ihm sein Beileid aus. Und da Herman dies mit einem kurzen Auflachen zurückwies, beharrte er darauf und verfocht die Auffassung der Zeitung, die er gelesen hatte, der zufolge die in dieser Gegend Verschollenen für immer verschwunden blieben.
    »Das entspricht nicht ganz dem, was man mir gesagt hat«, hielt Herman dagegen.
    Aber der Direktor war sich seiner Information sicher, auch wenn er nichts Genaueres wußte: Keine Familie, die auf diese Weise getrennt worden war, hatte je wieder zusammengefunden.
    »Nun, wir werden sehen«, erwiderte Herman leichthin.
    Dann hörte er am anderen Ende in Paris die Glocke, die das Ende der Pause einläutete, und er schauderte vor Erleichterung darüber, daß er selbst in Socken im stillen Speisesaal des Relais stand, zwar beobachtet und belauscht von Charlottes Mutter und jeder Möglichkeit beraubt, sich vollständig zurückzuziehen, dafür aber, wie ihm schien, auf eigentümliche Weise frei von jedem Zwang, sich vorteilhaft zu präsentieren, da er hier nie mit irgend jemandem zu tun hatte, der die gleiche Sichtweise hatte wie er, wie seine Freunde und Kollegen in Paris.

    3 Zwei oder drei Tage später kam Herman kurz vor dem Abendessen ins Hotel zurück, nachdem er bei Métilde gewesen war und mit ihr einen neu eingetroffenen Prospekt über die beruflichen Möglichkeiten studiert hatte, die der Abschluß als Bürokauffrau eröffnete. Bei dieser Gelegenheit – Gilbert war nicht da und sie saßen beide auf dem Bett – hatte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen Herman gelehnt.
    »Ich bin Ihnen lästig«, hatte sie traurig gemeint, als Herman sich nicht regte.
    Doch er hatte einfach ein bißchen Angst vor Gilbert, jetzt, da feststand, daß sie zusammen nach L. fahren würden. Er traute sich nicht, Métilde das zu sagen, und sie seufzte. Sie wandte sich ab, und er sah im Profil, wie ihre Nase rot wurde. Daher war er bekümmert, als er sie verließ.
    Auf der Hauptstraße spannte er seinen Schirm nicht gleich auf. Die Kälte war schneidender als am Tag vorher, der Regen fiel feiner, und er dachte, in der Nacht würde es wohl frieren. Da sah er auf einmal, als träten sie aus der dunklen Drogerie an der Ecke Hauptstraße und Marktplatz heraus, Rose mit dem Kleinen an der Hand. Sie kamen auf ihn zu, mit bloßem Kopf, in den Sommerkleidern, die sie drei Wochen zuvor getragen hatten. Ihre Haare waren, wie die Hermans, tropfnaß, Roses kurzer Rock klebte an ihren Oberschenkeln, das T-Shirt des Jungen malte seine Rippen

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