Ein Tag, zwei Leben (German Edition)
Blick, wie ich ihn noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Ich rückte ein wenig auf seinem Schoß zurecht, verlegen, dass ich ihn dabei erwischt hatte, als er mich so ansah. Aber es schien ihm nichts auszumachen. Tatsächlich schaute er mich weiterhin mit derselben Intensität an.
Dex hatte überhaupt keinen glasigen Blick. Er trank nie. Nicht seit damals in seinem Juniorjahr, als er und ein paar Jungs eine Flasche Wodka aus der Hausbar seiner Eltern stibitzt hatten. Ich hatte nie die ganze Geschichte gehört; es war die einzige Sache, über die Dex nicht gern sprach. Alles, was ich darüber wusste, war, dass an jenem Abend ein Junge, der aus einer anderen Stadt kam, im Krankenhaus gelandet war. Soweit ich weiß, hatte Dex seit damals keinen Alkohol mehr angerührt.
Ich beugte mich vor und nippte an dem Getränk, das er für mich bestellt hatte, und hätte mich fast verschluckt. Nur weil Dex nicht trank, hieß das nicht, dass er nicht bereit gewesen wäre, mich mit Raketentreibstoff abzufüllen.
» Gott, was ist das?«
» Cola mit Rum«, sagte er achselzuckend, während er mich zurück an seine Brust zog.
» Das schmeckt ja furchtbar«, sagte ich, nahm allerdings gleich noch einen Schluck.
» Sabine, was ist denn das?«, fragte Miriam.
» Was?« Ich wirbelte zu ihr herum und erstarrte. Sie hatte Ethans Liste in der Hand. » Oh, ähm …« Ich leckte mir über die Lippen.
Shit.
Doch dann rief ich mir wieder ins Gedächtnis, wo ich war – wer ich war. Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin. » Nur ein paar Fragen aus einem Quiz, das mein Bruder heute gemacht hat«, sagte ich absichtlich blasiert. » Ich habe sie notiert und gesagt, ich würde heute Abend versuchen, die Antworten im Internet zu finden.« Meine lange Geschichte der Täuschungen gewährleistete, dass mir die Lüge leicht über die Lippen kam.
» Ooh, cool«, sagte Miriam, die sich die Liste jetzt durchlas. » Ha! Das da weiß ich!« Sie sprang auf. » Ich habe erst vorgestern einen Artikel darüber gelesen. Die Bestandteile in Schokolade, die das Risiko der Erkrankung der Herzkranzgefäße verringern, heißen …« Sie blickte zur Decke und wippte auf und ab. » Wie war das noch gleich? Wie war das noch?« Dann fiel ihr es ein. » Flavonoide! Das ist es. Findet man auch in so großartigen Dingen wie Beeren und Rotwein.« Sie machte einen Knicks.
» Flavonoide?«, wiederholte ich, unfähig meine Aufregung zu verbergen. Miriam nickte.
» Hat jemand einen Stift?«, fragte ich dringlich. Als ich mich umsah, ertappte ich Dex dabei, wie er mich seltsam anstarrte.
» Bitteschön«, sagte Miriam.
Ich wandte mich wieder zu ihr um und schrieb die Antwort auf.
» Hey, Dex, ist das Latein?«, fragte Miriam, sie zog mir das Blatt Papier weg und reichte es ihm.
Ich wurde blass. » Nein, schon okay. Es brauchen mir nicht alle zu helfen. Es ist doch nur ein dummes Quiz.«
Ich weiß nicht, warum, aber auf einmal erschreckte mich, dass die Gruppe versuchen könnte zu entziffern, was immer Ethan da in einer anderen Sprache aufgeschrieben hatte. Was, wenn es etwas war, das mich verraten würde? Oder, ich weiß nicht … sonst etwas … Privates.
Mit rasendem Puls griff ich nach der Liste, doch Dex war schneller. » Ich kann ein wenig Latein.«
» Wahrscheinlich ist es nicht mal Latein«, deutete ich an, streckte die Hand nach dem Blatt Papier aus und versuchte zu ignorieren, dass ich rot wurde.
Er nahm keine Notiz davon und studierte die Liste eingehend. Als er innehielt und mich ansah, war ich mir sicher, dass er wusste, was dort stand, und dass es etwas Schreckliches war.
Shit.
Endlich räusperte er sich. Ich hielt den Atem an.
» Nun, du hast Glück«, sagte er. » Es ist Latein, so viel ist mal sicher. Thesaurum heißt » Schatz«, omnis heißt » alles« oder » alle« und vitae heißt » Leben«. Eigentlich ziemlich simpel.« Er hielt mir die Liste hin und ich musste mich beherrschen, sie ihm nicht aus der Hand zu reißen. » Also, wofür ist dieses Quiz?«
Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Getränk und schüttelte den Kopf. Ethan musste diese Botschaft wohl für urkomisch gehalten haben. Zorn loderte in mir auf. Wer war er überhaupt, dass er mir gegenüber diesen Mist vom Stapel ließ? Wenigstens hatte mich das Dex gegenüber nicht verraten.
» Sabine?«, sagte Dex und wirkte allmählich verärgert.
» Oh, sorry. Ich, ähm … ich weiß nicht. Das hat Lucas nicht gesagt. Bist du sicher, dass das die Übersetzung ist?«
»
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