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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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schmollte deswegen und kaute Fingernägel, wodurch sie die Sache unglaublich aufbauschte. Was blieb ihr denn jetzt noch, wo ihr mit jedem neuen Tag so vieles, woran ihr Herz hing, genommen wurde? Als ich um die Ecke spähte, sah ich ihrem verheulten Gesicht an, dass sie an Mahtab dachte, all die Träume, die sie gemeinsam gehabt hatten. Und was ist aus den Hafezi-Zwillingen geworden? Aus ihnen und ihrer grandiosen Zukunft … aus den Plänen ihrer Mutter?
    Als ihr Vater nach Hause kam, war Saba auf einem Kissen in der Zimmerecke eingeschlafen, das Gesicht mit getrockneten Tränen verschmiert. Er blickte verwirrt. Er zog seine Jacke aus und legte ein bekanntes Lied von Vigen auf. Bis heute kann ich sehen, dass Saba eine besondere Vorliebe für Vigen hat, diesen attraktiven christlichen Künstler, der westliche Gitarrenmusik in den Iran brachte und dessen erstes Lied »Mahtab« hieß. Das Lied, das Agha Hafezi an jenem Tag spielte, hieß »Mara Bebus« oder »Küss mich«. Fragen Sie egal wen hier in unserer Gegend, was seine zwei iranischen Lieblingslieder sind, und jeder wird dieses nennen sowie »Sultan der Herzen«. Angeblich hat ein Gefangener des Schahs den Text zu »Mara Bebus« als den Abschied eines Vaters von seiner Tochter unmittelbar vor seiner Hinrichtung geschrieben.
    Küss mich zum letzten Mal
, sagt der Todgeweihte,
möge Gott dich auf ewig schützen
.
    Als Saba ein paar Jahre älter war, hat sie mir mal erzählt, dass das auch wieder bloß eine charmante iranische Lüge ist, weil das Lied genauso klingt wie ein spanisches mit dem gleichen Namen.
    Irgendwann wurde Saba wach. Bestimmt hatte sie ihren Vater gehört, der diese eindringliche, sehnsüchtige Melodie wieder und wieder vor sich hin sang. Er saß auf den Kissen, die den Wohnzimmerboden bedeckten, und starrte nachdenklich ins Leere. Ich schaute immer mal wieder hinein und entdeckte keine Flasche oder Wasserpfeife bei ihm, aber er war in einer anderen Welt. Dann kroch Saba zu ihm rüber, und er zog sie auf seinen Schoß. Er sang ihr die Worte ins Ohr, und die beiden blieben lange so sitzen, ihr Kopf an seiner Brust, während er ein Vater-Tochter-Lied summte.
    Mein Frühling ist dahin. Alles Vergangene ist dahin. Jetzt geh ich meinem Schicksal entgegen.
    Anschließend erzählte ihr Vater ihr die Geschichte hinter dem Lied. »So empfinden alle Väter für ihre Töchter, und nur für ihre Töchter. Im ganzen Universum und in allen Zeiten ist das so, und die Hoffnungen, die daraus erwachsen, können weder Mütter noch Söhne noch Cousins noch sonst wer nachempfinden.«
    Wie seltsam, dass manche Erinnerungen verloren gehen, bis sie eines Tages ganz von selbst beschließen zurückzukommen. Jetzt weiß ich wieder, dass es derselbe Tag war, als ich zum ersten Mal mitbekam, wie Saba eine Geschichte über Mahtab erzählte – nur ein paar Sätze, die Agha Hafezi schmunzeln ließen und in denen es um Mahtabs Flug nach Amerika ging. Saba tat das für ihren Vater, um ihm seine verlorene Tochter zurückzuholen.
    »Ich nehme dich von der Schule«, sagte er. »Das ist reine Verschwendung, der ganze Arabischunterricht. Konzentrieren wir uns darauf, dass du fließend Englisch lernst. Ich bring dich morgen hin, damit du dich verabschieden kannst.«
    Abschiede sind so ein Luxus. Manche Menschen sehnen sich ein ganzes Leben lang danach.

Kapitel Zehn
    Herbst 1990
    S aba blutet jetzt öfter als einmal im Monat. Sie hat Rückenschmerzen, und manchmal ein leises Ziehen im Bauch. Das ist eine Strafe, sagt sie sich. Nachdem die beiden Frauen fort waren, blutete Saba zwei Tage lang. Sie sagte es niemandem, schließlich galt es, ein Geheimnis zu wahren. Und hatte Khanom Omidi ihr nicht mal erzählt, dass Frauen beim ersten Mal bluten? Von da an war ihre Periode durcheinander. Jeden Monat dauerte sie doppelt so lange wie vorher, und oftmals entdeckte sie auch zwischendurch dunkelrote Flecken in ihrer Unterwäsche oder im Bettlaken. Auch das erzählte sie niemandem. Vielleicht waren die Blutungen die Strafe Gottes dafür, dass sie es versäumt hatte, in diesem erschreckenden neuen Iran auf der Hut zu sein, und sich eingebildet hatte, schlauer zu sein als alle anderen. Als sie und Mahtab Kinder waren, sagte ihre Mutter oft, dass Gott die Hochmütigen bestraft, weil »Hochmut dich zerstören kann und, Saba-dschan, dein Verstand dein größter Stolz ist«.
    »Ist das bei Mahtab nicht auch so?«, fragte Saba.
    Dann schüttelte ihre Mutter den rabenschwarzen Kopf mit den fünf

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