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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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grauen Haaren und flüsterte, dass Mahtabs Stolz noch schlimmer war, weil sie nicht einfach nur ihrem eigenen Verstand vertraute, sondern auch noch glaubte, sie könne die Welt manipulieren. »Aber achte du zuerst auf den Balken in deinem eigenen Auge«, riet sie Saba oft, was auf irgendeinen Bibelvers zurückging. »Und ich kümmere mich um deine Schwester.«
    Jetzt, als Saba über die Zweckmäßigkeit ihrer eigenen Entscheidungen nachgrübelt, ruft sie sich in Erinnerung, dass es immer jemanden gibt, der schlauer ist, der einen noch besseren Plan hat. Und was kann eine junge Frau tun, wenn sie überlistet wurde? Ihre einzige Waffe gegen Abbas ist seine Einsamkeit, die sie mit grausamem Vergnügen verstärkt, indem sie ihm den Zutritt zu ihrem Zimmer verweigert, Einladungen ohne ihn wahrnimmt, abends nur für sich allein kocht. Was kann er dagegen machen? Ihr Erbe ist durch einen wasserfesten Vertrag gesichert. Und er weiß, falls er ihr irgendwelche körperlichen Verletzungen zufügt, die sie der Welt zeigen kann, wird sie das auch garantiert tun.
    Tag für Tag bettelt er stumm um Verständnis. Er schleicht auf Zehenspitzen durchs Haus, sucht sie hier und da, legt ihr ungeschälte Mandeln und Pfirsiche als kleine Gaben hin. Manchmal verschwendet er einen ganzen Beutel Aprikosen, deren Steine er einen nach dem anderen knackt, weil er weiß, dass sie den saftigen Kern darin mag. Aber seine Sünden sind für Saba zu unverzeihlich. Er soll an Einsamkeit sterben. Seine letzten Nächte sollen leer und kalt sein, und er soll in dem Wissen verkümmern, dass ihn nie wieder die Berührung eines anderen menschlichen Wesens trösten wird.
    Sie zieht sich in die einsamen Winkel ihres Hauses zurück, verschlingt westliche Medien wie ein ausgehungertes Tier. Der Teheraner, ihr verlässlicher Freund, obgleich sie kaum mehr als ein paar Worte wechseln, bietet ihr die beliebtesten Artikel an – Dinge, die er mit dem größten Gewinn handeln und tauschen kann –, von Michael-Jackson-Videos über indische Filme bis hin zu Fitnesskassetten, aber Saba will immer nur amerikanische Filme. Nachdem
Love Story
ihr die Augen für den Zauber von Harvard geöffnet hatte, versprach sie dem Teheraner das Doppelte seines üblichen Preises, wenn er ihr mehr Filme und Fernsehserien bringen könnte, die dort spielen. Sein erster Versuch war ein Desaster. Ein Mischmasch von niveaulosem Quatsch, der in Harford spielt, ein paar Folgen von
Cheers
und ein Film mit dem Titel
Die Zeit der Prüfungen
, der gar nicht in Harvard gedreht worden war. Wenngleich es am Ende einen interessanten Moment gibt, als die Hauptfigur, ein Jurastudent, ein Papierflugzeug aus seinem Zeugnis faltet und es ins Meer wirft. Unglaublich! Er guckt nicht mal hin. Es gibt viele Unterlagen – den Ehevertrag und iranische Pässe und den Brief ans Evin-Gefängnis –, die sie am liebsten dem Meer übergeben würde, und dann könnte Mahtab sie rausfischen und für sie durchsehen.
    Jetzt sieht sie sich die neueste Anschaffung des Teheraners an, einen Collegefilm, der ihr trotz der schlechten Qualität gefällt. Sein Schauplatz wäre genau der richtige Ort für Mahtab. Saba prägt sich die Namen der Straßen und Gebäude im Film ein. Sie beobachtet, wie die Frauen sprechen, die Männer sich bewegen, die schockierende Art, wie einer von ihnen heimlich seine schöne Freundin beim Ausziehen beobachtet. Was für eine fantastische und herrliche Welt.
    Nach einer Weile kommt Khanom Omidi herein und setzt sich neben sie. Saba legt den Kopf auf den Schoß der alten Frau. Die wiegt sich vor und zurück, summt und streichelt Sabas Haar, und ihre Volksweisen verschmelzen mit den mondänen englischen Worten, die aus dem Fernseher tönen, und lassen etwas entstehen, was Saba sich als die Musik der Einwandererwelt ihrer Schwester vorstellt. Zu ihrem eigenen Entsetzen muss sie wieder weinen. In letzter Zeit ist die Heulerei ebenso unmöglich zu beherrschen wie ein nervöser Tick.
    »Was ist denn los? Oh nein, Saba-dschan«, sagt Khanom Omidi sanft, »sei doch nicht traurig, Kind. Du kannst glücklich sein, wenn du nur willst.«
    Auf der Mattscheibe tragen Studenten Jeans und Sweatshirts im Hörsaal. Sie gehen in ihren Pyjamas auf Partys. Sie sitzen an Esstischen mit Rotwein und Unterlagen für Diplomarbeiten.
    Saba antwortet nicht. Sie schluchzt in den weiten Rock ihrer Ersatzmutter und wünscht, ihre Schwester wäre da. Khanom Omidi scheint zu ahnen, dass Saba etwas zugestoßen ist. Sie summt ihr

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