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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Haar. Er nickt den Frauen zu und sagt: »Ich warte dann draußen mit Ihrer Bezahlung.«
    Saba hört ihn irgendwas murmeln, als er laut die Tür hinter sich schließt.
Frauengeschäfte.
    Jetzt erfasst sie eine unbezähmbare Angst. Ein wildes Wesen erwacht in ihr, wittert Gefahr und wirft sich Richtung Freiheit, presst sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Innenwand ihres Brustkorbs, quetscht ihr Herz mit panischer Faust zusammen und lässt ihre Rippen schmerzen.
Was geht hier vor?
    Wenn sie in den Jahren danach an diesen Moment denkt, erinnert sie sich immer an eines: die dicke Hand, die sie von hinten packt. Den schmerzhaften Ruck und die Übelkeit, als ein Unterarm sich um ihren Bauch schlingt und sie nach hinten reißt. Eine Riesin zerrt ihren sich windenden, kreischenden Körper aufs Bett, hält ihn mit dem Gewicht ihrer kolossalen Arme und Brust fest, die jetzt mitten auf Sabas Torso drücken.
    »Hol die Tasche«, sagt sie in einem starken
dehati
-Dialekt von irgendwo im Süden, einem Bauerndialekt mit dem unverkennbaren Tonfall von Feldarbeiterinnen, Hamam-Bediensteten und Putzhilfen, Frauen ohne regelmäßiges Einkommen, ohne Umgang mit Familien wie ihrer. Höchstwahrscheinlich leiden diese beiden unter einer größeren Armut als jede der Mütter, die in Sabas Haus ein und aus gegangen sind und das Vertrauen ihres Vaters gewonnen haben. Sie hat gehört, dass viele verzweifelte Frauen – ehemalige Prostituierte, mittellose Mütter – zu den Basidsch-Schwestern gehen und dass es möglich ist, sie für unaussprechliche Dinge anzuheuern, schmutzige Taten, die totgeschwiegen werden müssen. Den Basidsch war so etwas schon immer zuzutrauen, vor allem, wenn sie es unter einem noch so fadenscheinigen Vorwand mit Gott und dem islamischen Recht in Verbindung bringen können.
Wofür hat Abbas sie bezahlt? Wie hat er sie gefunden? Hat er sich in seinem alten Badehaus umgehört?
In einem Anflug von Berechnung überlegt Saba, derjenigen, die ihr bekannt vorkommt, zu erzählen, wer ihre Mutter ist. Wird es ihr etwas ausmachen? Erinnert sie sich überhaupt noch an ihr früheres Leben? Jetzt wird die Erinnerung klarer, und einen winzigen Augenblick lang ist die Frau, die nach der Tasche greift, nicht in Schwarz gekleidet, sondern barbusig und trägt einen
lungi
um die Taille, so wie an dem Tag, als Saba sie zuletzt gesehen hat.
    Sie bekommt den rechten Arm frei und landet einen verzweifelten Schlag auf der Nase der Frau über ihr. Sie hört ein Knirschen, und die Frau schreit auf, stößt wütende Flüche aus, während sie die Hände ans Gesicht hebt und Saba lange genug loslässt, dass sie zur Tür springen kann. Als Saba nach der Klinke greift, blickt sie nach hinten und sieht die Frau auf dem Teppich knien. Ein Blutschwall quillt durch ihre vor der Nase verschränkten Finger. Der Anblick lässt Saba stocken, und außerdem ist die Tür abgeschlossen. Als sie merkt, dass sie nicht fliehen kann, täuscht sie Kampfesmut vor. »Willst du noch mehr?«, schreit sie die blutende Basidsch, oder was immer sie ist, an. »Ich schwöre euch, wenn ihr mich anrührt, lass ich euch im Schlaf umbringen.«
    Die zweite Frau, die ehemalige Fadenkünstlerin ihrer Mutter, umfasst ihre Taille, hebt sie vom Boden hoch und schleudert sie aufs Bett.
    »Halt sie einfach fest. Um deine Nase kümmern wir uns hinterher«, sagt sie.
    Während die Fadenkünstlerin eine graue, pyramidenförmige Tasche aufklappt, gelingt es Saba, den Kopf gerade so weit anzuheben, dass sie durch einen Spalt in den Falten der Decke und des abgelegten Tschadors, die jetzt ihr Gesicht bedecken, Bewegungen wahrnehmen kann. In der Tasche sieht sie Lappen, und sie fliegen in alle Richtungen, als die Frau die Tasche durchwühlt. Saba sieht etwas Glänzendes. Es reflektiert das Licht vom Fenster, und einen Moment lang ist sie von der grellen Spiegelung geblendet. Sie dreht den Kopf weg und versucht erneut, sich aus der Umklammerung zu befreien.
    »Was wollt ihr?«, schreit sie. »Wollt ihr verhaftet werden?«
    Und dann ist das Instrument über ihr, und sie kann erkennen, dass es bloß die abgebrochene Spitze eines herkömmlichen Schüreisens ist – oder zumindest vermutet Saba das. Die unverletzte Frau, diejenige, die mal ihrer Mutter ebenso nahe war, schiebt Sabas Rock hoch und macht einen vulgären Witz; sie könnte auch mal ein Fadenspiel gebrauchen oder so was Ähnliches. Ihr Atem riecht nach saurer Milch und Knoblauch, ihr Körper ist schwerfällig und fremdartig, als sie

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