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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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sich ihre ausländische Musik an.
    Während jenes ersten Monats der Ungewissheit, als die Welt draußen sich veränderte und die Mädchen in ihrem großen, großen Zimmer eingesperrt waren, fingen Mullahs aus Cheshmeh und Rasht an, das Hafezi-Haus zu besuchen. Agha Hafezi hielt es für notwendig, sie einzuladen, diese neuen geistlichen Könige, um sie sich gewogen zu machen. Mullah Ali war einer von ihnen, aber er war anders, weil er Agha Hafezi schon seit Jahren kannte. Er lebte in Cheshmeh und machte sich selbst zu dem Schmierfett, das verhinderte, dass Agha Hafezis Ecken und Kanten sich an den Ohren der Mullahs verhakten. Er gab dumme Witze zum Besten, über die er selbst am lautesten lachte, und erzählte langatmige Geschichten aus dem Koran. Es funktionierte, denn keiner der Mullahs stellte weitere Fragen, und nach einer Weile kamen nur noch ein oder zwei von ihnen. Falls sie das Geheimnis der Familie entdeckt hätten, wäre Agha Hafezi verhaftet oder getötet worden, weil die Familie ursprünglich nicht christlich war, anders als die Armenier oder Assyrer. Sie waren vom Islam zum Christentum konvertiert. Würde ein Muslim sie töten, wäre das keine Sünde. Natürlich wusste Mullah Ali Bescheid. Ich auch. Aber weise alte Geschichtenerzähler wie wir wissen, dass es schlecht für alle wäre, wenn das herauskäme.
    Eingeschlossen in ihrem feinen Gefängnis, erfanden die Mädchen ihre eigenen Revolutionslieder und Kriegsparolen. Monatelang wurden die Dschinn und
paris
aus einer anderen Zeit von Märtyrern und Helden und Blut und Gewehren verdrängt. Eines Tages sagte Mahtab am abendlichen
sofreh
, dass das Lamm um unseretwillen geopfert worden war, und Bahareh sagte, sie sollte aufhören, so einen Unsinn zu reden, und essen. Wenn Sie mich fragen, war der Verlust von guten Geschichten zugunsten dieses ganzen Kriegs- und Revolutionsquatsches das Schlimmste von allem. Für Bahareh war der Verlust ihres Hauses, das nicht mehr privat war, nicht mehr ihr allein gehörte, das Schlimmste. Sie wurde zornig. Sie verlor immer häufiger die Geduld mit den Mädchen.
    Es gibt ein Gerücht, dass Agha Hafezi während dieser Zeit zwei Wochen im Gefängnis saß. Vielleicht stimmt das. Er war einmal so lange fort, und als er zurückkam, war sein Haar kurz geschoren. Danach hörte er sich alles an, was Saba an Musik hatte, und ließ sie nur eine Kassette mit englischen Kinderliedern behalten. Er erzählte den Mullahs und anderen Gästen stolz von dieser neuen Regel, obwohl er vorher nie streng zu den Mädchen gewesen war. Aber Sie kennen ja die Redewendung: Wer einmal von einer Schlange gebissen wurde, der fürchtet sich vor Schwarz und Weiß.
    Ei vai
, was hat diese amerikanische Musik doch alles für Probleme beschert! Ich verstehe nicht, warum die beiden Mädchen so verrückt danach waren – und als sie verboten worden war, hungerten sie nur noch mehr danach. An jenem Tag in ihrem Zimmer hörte ich Saba auf dem Schoß ihrer Mutter weinen, und Bahareh erklärte dem Mädchen, dass die Revolutionäre unrecht hatten. Etwas, das schön ist oder Freude bereitet, kann keine Sünde sein, und Gott liebt die Musik aller Menschen. Jesus liebt offenes Frauenhaar, sagte sie, und ausländische Bücher und ganz besonders künstlerisches Talent. Wahre Kunst, sagte sie, ist Gottes herrlichste Schöpfung. Dann sagte sie zu Saba, sie sollte ruhig auch noch die Kassette mit Kinderliedern wegwerfen, denn wenn niemand daran Anstoß nehme, sei sie sinnlos, ohne Saft und Kraft. Sie klang traurig, als wollte sie weglaufen.
    Später gelang es Saba, einige ihrer Kassetten draußen aus dem Müll zu retten.
    »Nothing’s gonna change my world«
, summte sie hundert Mal in jenem Jahr, sodass wir alle mitbekamen, was das bedeutete – und auch später noch, als sie im Wagen ihres Babas fuhr, an einem schlimmen, schlimmen Tag mit grünen Kopftüchern und blauen Manteaus und braunen Hüten, der sie von ihrer Schwester trennte.
    Eins kann ich Ihnen sagen, Gott wird Bahareh niemals verzeihen, dass sie ihre Töchter lehrte, in verbotenen Nichtigkeiten nach Sinn zu suchen.

Kapitel Zwölf
    Sommer 1991
    U nter den Frauen im Norden ist der Glaube verbreitet, dass es Unglück bringt, an einem Dienstag Stoff zu schneiden. Montags zu reisen kann böse Vorzeichen auslösen, und wer mittwochs fegt, holt sich Dschinn ins Haus. Es ist nicht ratsam, sich freitags oder abends die Nägel zu schneiden, und wer es doch tut, sollte die Schnipsel in Zeitungspapier wickeln und in

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