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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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kundzutun. Die Mütter, in deren Obhut sie aufwuchs, haben ihr beigebracht, sich an die alten Sitten zu halten, und genau das hat Saba getan. Es war ja niemand da, der sie zu etwas anderem hätte erziehen können. »Mehr hat sie nicht gesagt?«, fragt Saba. »Erzählen Sie mir mehr von ihr. Wann haben Sie mit ihr gesprochen?«
    Jetzt wirkt Dr. Zohreh verblüfft. »Mit ihr gesprochen?«, sagt sie. »Na ja, genau wie alle anderen, natürlich … vor vielen Jahren, ehe sie … mitgenommen wurde.« Sie mustert Saba mit ihrem neugierigen ärztlichen Blick und fügt hinzu: »Ich denke, sie meinte damit, dass du eine Aufgabe haben solltest. Etwas, für das es sich lohnt, Risiken einzugehen. Dein Potenzial war ihr sehr wichtig.«
    Saba nickt, trinkt einen Schluck.
    »Weißt du«, sagt die Ärztin und rückt das Teetablett gerade, »in gewisser Weise ist unsere Arbeit das Vermächtnis deiner Mutter. Du solltest mal herkommen, wenn wir uns hier versammeln –«
    Saba fällt ihr ins Wort. »Können Sie mir irgendwas darüber sagen, was mit ihr passiert ist?«
    Als Dr. Zohreh aufsteht und beginnt, eine Lampe und zwei Kerzen anzuzünden, denkt Saba, dass sie bloß ihre Hände beschäftigen will. Bald leuchten die frostigen Fenster gelb, und Dr. Zohreh seufzt zufrieden. »Ist das nicht schön?« Sie wärmt das Gebäck über einem Handöfchen, aber Saba durchschaut diese Taktik. Auch ihre Mutter benutzte sie, wenn sie den Fragen ihres Vaters ausweichen wollte, und zwar in den Wochen – oder Monaten, oder war es ein ganz anderes Jahr? – vor ihrem Verschwinden. Saba lehnt sich zurück und sagt kein Wort, fest entschlossen, dieses Ablenkungsmanöver zu ignorieren.
    Schließlich atmet Dr. Zohreh wieder aus und sagt: »Wenn man nichts mehr von jemandem hört, nachdem sie ihn ins Evin-Gefängnis gebracht haben … Tja, du weißt schon.«
    »Nein, weiß ich nicht«, sagt Saba, während sie nach Gründen für die Festnahme sucht. Vielleicht hat ihre Mutter Flugblätter für Dr. Zohreh verteilt, oder sie hat den Feldarbeitern zu viel Gospel Radio Iran vorgespielt.
    »Ich sehe das so«, sagt die Ärztin. »Irgendwer hat gegenüber deinem Vater behauptet, sie im Gefängnis gesehen zu haben, richtig? Daraufhin hat er angefangen, dort nach ihr zu suchen.« Saba nickt. »Aber wusstest du, dass es nie irgendwelche Papiere gegeben hat, die das belegen?«
    Sabas Finger arbeiten sich durch ein Stück
ghotab
, zerbröseln es auf dem Tisch. Sie wünschte, die Ärztin würde endlich zum Punkt kommen. »Ich verstehe nicht.«
    Dr. Zohreh nickt. »Das Gefängnis behauptet, sie wäre nie dort gewesen, und ich will ganz ehrlich zu dir sein, das behaupten sie häufig, wenn einem Gefangenen etwas Unerwartetes passiert ist …« Sie verstummt und klaubt ein paar von Sabas Krümeln auf. »Ich denke, für deinen Vater ist es leichter, zu glauben, dass sie dort gestorben ist. Sie war unglaublich tapfer, weißt du … Und es ist tatsächlich die logischste Erklärung, Saba-dschan.«
    Saba beschwört das Bild von ihrer Mutter am Flughafen herauf. Sie weigert sich, Dr. Zohreh zu glauben. Wieso kann sie mit Sicherheit behaupten, ihre Mutter wäre tot? Sie atmet tief durch und versucht, sich nicht an den Hals zu fassen, weil die Ärztin diese Schwäche bestimmt verurteilen würde.
    »Aber«, fährt Dr. Zohreh fort, »wer kann schon sagen, ob die Person, die behauptet, sie hätte deine Mutter gesehen, verlässlicher ist als die Gefängniswärter? Ich denke, die fehlenden Papiere lassen zwei Möglichkeiten offen.« Saba sieht einen Anflug von Erregung im Gesicht der Ärztin, und in Gedanken geht sie ihre wirren Erinnerungen an den Tag im Flughafen durch. Hat sie gesehen, wie die
pasdars
ihre Mutter abführten? In jenem letzten Moment – bevor ihre Mutter in der Menge von Leuten verschwand, die nach Amerika fliegen sollten –, haben sie sich da in der Flughafenlounge gesehen, am Gate, in der Warteschlange vor der Sicherheitskontrolle? Trug Mahtab im Sommer einen Mantel?
    Sie versucht, sich auf die Möglichkeit zu konzentrieren, die die beste Freundin ihrer Mutter ihr jetzt erörtert. »Vielleicht ist sie gestorben«, setzt Saba an, »oder …« Sie stockt, überlegt, was diese andere, hoffnungsvollere Option sein könnte.
    »Vielleicht ist sie aber auch nie verhaftet worden«, sagt Dr. Zohreh.
    »Ja«, murmelt Saba.
Vielleicht hat sie Cheshmeh und ihre Familie einfach verlassen.
    Seit sie von dem Brief an das Evin-Gefängnis weiß, hat Saba viele Male

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