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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Mauerritzen verstecken. Seit ihrer Heirat nimmt Saba unter den Frauen von Cheshmeh einen neuen Platz ein, denn sie hat auf eine ganz andere Weise teil an ihren Derbheiten und Geschichten, ihren Süßigkeiten und abergläubischen Vorstellungen. Sie folgen tausend unausgesprochenen Regeln. Doch nun, da Saba gelernt hat, wirklich zuzuhören, stellt sie fest, dass sehr viel Vernunft hinter jeder einzelnen steckt.
    »Ich kann jetzt nicht fegen, Agha-dschan«, sagt Sabas Nachbarin zu ihrem Mann, während sie es sich mit einem Gedichtband gemütlich macht. »Willst du etwa, dass ich uns Dschinn ins Haus locke?«
    »Ich kann dir deine Sachen heute nicht flicken«, sagt Nilu, die Enkelin der Mansuris, zu Rezas großem Bruder Peyman und zeigt auf den Kalender an der Wand. »Dienstag.«
    Offenbar fiel es den Männern von Rasht in alter Zeit schwer, die Notwendigkeit eines Ruhetages einzusehen. »Unsere Frauen sind den ganzen Tag zu Hause«, sagten sie. »Die haben schon zu viel Ruhe.« Doch die Frauen erkannten bald, dass ihre Ehemänner zwar nichts von Erschöpfung und Mäßigung verstanden, dafür aber um Dschinn, böse Vorzeichen und Unglück wussten. Und so kam es, dass eine Reihe zufälliger Entdeckungen gemacht wurde. Die faulsten Frauen stießen auf die erstaunlichsten Zusammenhänge: Falls eine Person einmal niest, muss sie sofort alles abbrechen, was sie gerade tut, und auf das zweite Niesen warten – und wenn es den ganzen Tag dauert. Ansonsten … Dschinn. Und die eifersüchtigen Frauen stellten fest, dass ein Mann, der morgens aus dem Haus geht und unterwegs eine Frau trifft, nach Hause zurückkehren und noch einmal losgehen muss.
    Saba sitzt in ihrem vorderen Hof und liest über diese Regeln in einem alten Buch, das sie in der Sammlung ihrer Mutter gefunden hat. Sie liebt Abbas’ vorderen Hof. Die hohen, weiß gestrichenen Wände. Der kleine Brunnen mit Goldfischen. Die niedrigen Bänke, geschützt unter den Dächern der Laubengänge im spanischen Stil. Entlang der rauen Wände, pockig von herausragenden Halmen und verklumpter Farbe, stehen wuchtige Krüge mit zehn Jahre altem eingelegtem Knoblauch, jeder so hoch, dass er Saba bis zum Oberschenkel reicht, aufgereiht wie Wächter. Sie stammen noch von Abbas’ erster Frau. Daneben hängt das große Porträt eines längst verstorbenen Familienpatriarchen. Ein bunter
ghali
, ein kleiner Teppich, der manchmal auf dem Rücken von Eseln liegt, polstert Sabas Lieblingsbank, auf der sie gern sitzt und liest und die Fische im Brunnen beobachtet. Sie vermutet, dass Abbas’ erste Frau abergläubisch war.
    Nach einer Weile schlendert sie zurück in ihr Zimmer, wo ihre neuesten Bücher und Zeitungen auf sie warten. In letzter Zeit hat sie öfter Nachrichten aus dem Ausland gelesen. Die Zeitungen sind meistens alt, aber es interessiert sie, was die
New York Times
und
The Economist
über ihr Land schreiben. Sie nimmt einen Artikel aus der Aprilausgabe der
New York Times
zur Hand, die sie von ihrem treuen Teheraner bekommen hat. Eine Journalistin namens Judith Miller zitiert eine diplomatische Quelle: »Die Revolution ist endlich vorbei.« Saba schnaubt und liest weiter. Der Artikel berichtet, dass die
komiteh
-Beamten kürzlich in die reguläre Polizei eingegliedert wurden, dass die Frauen kein unmodisches
maghnaeh
mehr tragen, das dreieckige akademische Kopftuch, das zusammen mit dem Manteau für Schule und Universität vorgeschrieben ist, und dass sich die
pasdars
zurückziehen und in den Straßen keine Fotos von Khomeini mehr zu sehen sind. »Ha, wie schön, dass wir das von Ihnen erfahren«, sagt sie laut – wohl wissend, dass es immer noch mehr als genug Fotos gibt; sogar eines in dem Büro ihres Vaters – und beneidet die Reporterin, von der sie nichts weiß außer ihrem Namen. Wahrscheinlich ist sie wie Mahtab, eigensinnig und ehrgeizig. Eine echte Journalistin.
    Irgendwann später klopft es an der Tür. Zuerst ignoriert sie es. Aber das Pochen wird lauter, und Saba legt das Buch weg, das sie gerade durchblättert – ein höchst illegales politisches Buch über die amerikanische Regierung mit dem Titel
Electing a President
. Dr. Zohreh hat es Ponneh geliehen, und Ponneh, die vor Scham nicht zugeben wollte, dass sie kaum richtig Farsi lesen kann, geschweige denn Englisch, hat Saba gebeten, es zu lesen und für sie zusammenzufassen. Sie schleicht die Stufen hinunter, die von der Haustür hinunter in Abbas’ Hof führen, und legt sich ein geflecktes Schultertuch

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