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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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um.
    Als sie das Tor öffnet, steht da Ponneh in einem Reise-Tschador, zwei große Taschen in den Händen. Saba nimmt ihr eine ab und schließt das Tor hinter ihr. »Was ist los?«, fragt sie.
    Ponnehs Gesicht ist blasser als sonst, und sie wirkt verstört – oder geschockt. Sie begrüßt Saba nicht, und ihre Augen sind weit aufgerissen und stumpf. Sie bewegt sich mechanisch, fiebrig und beginnt, sobald sie drinnen sind, in den beiden Taschen zu kramen. »Wir müssen uns beeilen«, sagt sie und wühlt sich bis zum Boden einer Tasche durch. »Ist dein Auto hier? Du musst uns fahren.«
    »Bist du verrückt geworden?«, sagt Saba. »Wo willst du denn bloß hin?« Als Ponneh nicht antwortet, fragt sie nach: »Weiß deine Mutter, dass du unterwegs bist?«
    Ponneh wohnt noch immer im Haus von Khanom Alborz. Ihre Mutter jammert und klagt jeden Tag am Bett der kranken Tochter. Sie ist der Auffassung, wenn ihr geliebtes ältestes Kind so leiden muss, kann Ponneh zumindest einen Bruchteil ihres Schmerzes teilen und mit dem Heiraten warten, bis sie an der Reihe ist. »Wir werden verhindern, dass etwas Schlimmes geschieht.« Sie holt eine Videokamera aus der Tasche hervor und dann einen alten Fotoapparat.
    Die Freundin erscheint Saba dermaßen verwirrt, dass sie überlegt, sie einfach am Arm zu packen und ins Haus zu ziehen. Ponneh findet eine Filmrolle. Sie legt sie in die Kamera ein und weicht Sabas besorgtem Blick aus.
    »Heute wird jemand aufgehängt«, sagt sie. »Und wir werden das dokumentieren.«
    »Was?«
Ein nervöses Lachen bricht aus Saba heraus. Sie schüttelt den Kopf und wendet sich zum Haus, weil sie jetzt sicher ist, dass Ponneh den Verstand verloren hat. »Du bist verrückt.«
    »Saba, bitte«, fleht Ponneh. »Bitte, ich
muss
das tun.«
    »Ich dachte, du würdest nicht bei denen mitmachen«, sagt Saba. »Du hast gesagt, du wärest der Gruppe von Dr. Zohreh nicht beigetreten. Ich hab dir gesagt, dass das gefährlich ist.«
    Saba hat sich zwar geweigert, Mitglied der Gruppe zu werden, aber sie hat die Hütte inzwischen mehrmals aufgesucht, um allein zu sein, um an ihre Mutter und Mahtab zu denken. Sie liegt tief im Wald versteckt, und in wärmeren Monaten riecht sie nach frischem Fisch und Knoblauch – Gerüche der Küste, die ihr keine Angst mehr machen wie früher als Kind, sondern fast so etwas wie einen süßen Schmerz auslösen. An klaren Tagen kann sie vom Fenster aus durch die Bäume hindurch das Meer ausmachen. Manchmal fährt sie runter zum Strand. Sie geht die Promenade entlang bis zu einem kleinen Fischerhaus, das sich auf einem steinernen Pier duckt, bestellt den Fang des Tages mit eingelegtem Knoblauch und betrachtet die Holzhäuser, die auf ihren langen, schlanken Stelzen über dem Wasser stehen wie Frauen, die am Strand die Röcke anheben, wenn eine Welle kommt. Die Seeschwalben fliegen dicht um die Berghütte herum, und Saba beobachtet sie, mit ihrem sündigen roten Mund und den trotzigen weißen Federn, die sich von dem schwarzen Schopf auf ihrem Kopf abheben. Eine hat sie sogar berührt und aus der Hand gefüttert, bis das Geräusch eines Autos sie verscheuchte. Saba genießt es, in der geheimen Berghütte allein zu sein und manchmal in Richtung Meer zu gehen. Sie bestaunt es wie eine verlorene Liebe … und summt von dem
dock of the bay
.
    Ponneh versucht, Saba die Kamera in die Hand zu drücken. »Wirklich, ich brauch deine Hilfe.«
    »Ich will mit so was nichts zu tun haben, Ponneh«, protestiert Saba. Sie argwöhnt, dass Ponneh Dr. Zohrehs Flugblätter und die Fotos und andere verbotene Dokumente in ihr Haus geschmuggelt hat, seit sie so schrecklich geschlagen wurde. Ihr Verhalten, ihre Ergebenheit dieser fremden Sache gegenüber, hat etwas Manisches. Sie studiert die Videoclips der Gruppe mit der Loyalität eines pubertierenden Kinofans. Saba fragt sich, ob Ponneh sich jedes Mal geläutert fühlt, wenn sie einen der Artikel liest, ob sie sich ausmalt, wie sie irgendwo in einer dunklen Ecke lauert und einen Sittenpolizisten bei einer brutalen Tat erwischt. Diese Sehnsucht, die Welt zu retten, ist Saba fremd. Denn was kommt danach? Wird es irgendwas ändern? Wird es ausreichen, um den Gedanken auszumerzen, dass sie, Saba Hafezi, reiche Witwe im Wartestand, kein guter Mensch ist? Dass sie ein ungehorsames Kind ist, eine untreue Seele, dass sie einem Schwächling von Mann eine herzlose Frau ist? Kann es die paranoiden Erinnerungsblitze löschen, die immer dann auftauchen, wenn sie rauchend

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