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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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versucht, sich einen Reim auf die Ereignisse jenes Tages zu machen. Wie konnte Mahtab mit einer Mutter ins Flugzeug gestiegen sein, die doch gerade verhaftet worden war? Jetzt jedoch, mit dieser neuen Möglichkeit vor Augen, könnten ihre Flughafenerinnerungen durchaus wahr sein.
Baba könnte sich in Bezug auf Evin geirrt haben
. Jetzt kehrt ihre elegante Mutter zurück, die einen blauen Manteau trägt, Mahtab an der Hand hält und ein Flugzeug besteigt. Ein Bild, das plötzlich wieder lebensecht wirkt, als hätte jemand an den Knöpfen des Fernsehers gedreht und das Schneerauschen und die weißen Streifen beseitigt.
    Saba atmet aus, lässt eine angenehme Ruhe von sich Besitz ergreifen.
    Es ist einleuchtend. Wie hätte ihr Vater denn so abgelenkt sein können, dass er seine Frau an die
pasdars
verliert? Schämt er sich zu sehr, um zuzugeben, dass sie ihn tatsächlich verlassen hat? Einfach ohne ein Wort abgehauen ist? Wieso ist er nicht zorniger? Wieso verflucht er diese Frau nie, die ihm das Leben so schwer gemacht hat? Vielleicht gehört das zu seinem privaten Leid dazu. Vielleicht hat er ihr bei der Flucht geholfen und will es Saba nicht erzählen, weil auch sie ihn dann verlassen könnte.
    Am frühen Abend, als die Kerzen und Lampen herabgebrannt sind und die Sonne hinter endlosen, frostbedeckten Bergen verschwunden ist, als das Gebäck trocken geworden ist und die Fenster ihren warmen gelben Schein verloren haben und zu ihrem trüben Nassgrau zurückgekehrt sind, verabschiedet Saba sich. Wenn es dunkel wird, ist sie nicht gerne in der Nähe des Meeres. »Ich muss vor Abbas wieder zu Hause sein.«
    »Was hältst du davon, zu unserem nächsten Treffen zu kommen?«, schlägt Dr. Zohreh erneut vor, als sie Sabas Tschador hinter der Kiste hervorholt. Saba starrt in die Dunkelheit hinaus und stellt sich ihr jüngeres Ich vor, das an jenem Tag mit Mahtab im Wasser spielte.
    »Heute war schön«, sagt Saba. »Ich bin froh, dass ich gekommen bin. Aber es tut mir leid, das ist nichts für mich.«
    Dr. Zohreh scheint überrascht. »Bist du sicher? Deine Mutter –«
    »Ich bin sicher«, sagt Saba. Es steht viel zu viel auf dem Spiel. Ihre ganze Zukunft, und wofür? Den Nervenkitzel, das kollektive Elend dieses Landes in die Welt zu posaunen? Schande über Massen von ahnungslosen iranischen Männern zu bringen, die vielleicht niemals merken werden, dass sie bestraft worden sind? Das braucht sie nicht. In ihrem eigenen Haus wartet ein realer Mann, ein Sünder aus Fleisch und Blut, den sie gar nicht genug bestrafen kann. »Außerdem ist das Ponnehs Projekt. Ich denke, ich überlass das ihr.«
    Dr. Zohreh lächelt, als wüsste sie, dass das nur eine Ausrede ist. »Dann nimm das hier«, sagt sie und holt etwas aus ihrer Tasche hervor. Sie übergibt Saba einen alten Schlüssel an einer dicken Kordel. »Komm hierher zur Hütte, wann immer du in Ruhe nachdenken möchtest.«
    Die beiden trennen sich – jede mit ein paar wehmütigen Worten über Sabas Mutter –, legen ihre schwarzgrauen Überwürfe an und verschwinden in ihren Autos in die Nacht. Auf der gesamten Rückfahrt stellt Saba sich das Meer gleich hinter den Bäumen vor. Die beängstigenden Felsen. Den quietschenden, schwankenden Steg. Die Boote, die von Wellen hin und her geworfen werden. Solche nebligen Wintertage lassen das Kaspische Meer seltsam wirken, trüb und finster wie ein schlechter Traum. Saba sehnt sich nach dem Sommer. Sie reibt mit den Fingern über den Schlüssel zur Hütte und denkt an den Messer schwingenden
pasdar
ihrer Albträume: »Sag mir, wo Mahtab ist, oder du stirbst!«
Jenseits des Meeres
, flüstert sie ihm im Kopf zu und ist sich endlich wieder sicher.

Revolutionsmusik
    Khanom Basir
    197 9 , als die Mädchen neun waren, muteten die Hafezis ihnen um ihrer Religion willen viel Schlimmes zu. Davor hatte die Familie friedlich in Teheran und Cheshmeh gelebt, nur die vier, und die Türen meistens geschlossen gehalten. Dann und wann sah ich ihre Christus anbetenden Freunde kommen und gehen, und ein paar von uns halfen Bahareh im Haushalt, aber das war alles. Nach der Revolution mussten sie ihr Leben verändern – und das beschränkte sich nicht nur darauf, dass sie die kurzen Hosen wegwarfen und auf die ausländische Schokolade verzichteten. Jetzt wurden die Geheimnisse des Hauses eine unheilvolle Last. Ihre Köpfe begannen, nach Lammeintopf zu riechen, wie man so sagt, sie lockten Raubtiere an. Aber Agha Hafezi gehörte nicht zu den

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