Ein Teelöffel Land und Meer

hat? Sie blickt forschend in sein Gesicht. Ist auch er unglücklich? Sie wünscht, sie könnte in ihn hineingreifen und diesen neuen, fremden Cameron wegwischen, der vorgibt, sie nie lieben zu können. Sie wünscht sich den alten Cameron zurück.
    Wie seltsam, denkt sie, dass er eine solche Furcht empfindet, dass sein Geheimnis mit so viel Angst und Schrecken einhergeht. Ist es wirklich so gefährlich für ihn im Iran? Könnte er wirklich gehängt werden? Etwas Derartiges kann Mahtab sich gar nicht vorstellen. Für eine zukünftige Journalistin ist ihr Verstand zu rein, sind ihre Augen zu unbefleckt. Ist es Cameron tatsächlich so wichtig, zurückzugehen und sich für den Wandel einzusetzen? Wie kann jemand für etwas nicht Greifbares so starke Gefühle empfinden? Für den bloßen verschwommenen Schatten einer Idee, die vielleicht nie real wird. Sie beneidet ihn um seine Leidenschaft. Sie lauscht dem Surren der Trainingsgeräte um sie herum und fühlt sich wie das einzige kaputte Rädchen im Motor einer großen, von Erfolg angetriebenen Maschine. Cameron schreitet voran. Er will ohne sie gehen, will einer der mächtigen Männer werden, die uns alle beherrschen, einer, der Schicksale verändert, und sie fällt weiter und weiter zurück.
    Sie beschließt, dass sie nur eine Möglichkeit hat, Camerons Macht über sie zu brechen, nämlich, größer, besser, erfolgreicher zu werden als er. Das war schließlich die wichtigste Lehre ihrer Mutter: Du musst ein bedeutendes Leben führen. Morgen wird sie in die große Stadt ziehen, um ihr Praktikum bei der
New York Times
anzutreten und ihren Platz in dem weißen Presse-Van einzunehmen. Sie wird die Männer und Frauen in Businesskleidung – diese aufgereihten Krähen – dazu bringen, dass sie ihr Talent bewundern.
    In New York lebt sie ein Filmleben. Sie besucht Tanzveranstaltungen wie die im
Club der toten Dichter
, wo Paare sich über Holzböden im Kreis drehen. Sie spielt in grünen Shorts Golf. Sie versteckt einen Kassettenrekorder in der Hosentasche dieser Shorts, um korrupte Geschäftsmänner aufzunehmen, die Dinge zugeben, die sie nicht hätten tun sollen.
    »Also, Agha Geschäftsmann«, wird sie säuseln, »erzählen Sie mir doch, was Sie dann gemacht haben.« Sie wird mit ihren langen Wimpern klimpern, und der Trottel wird auf die Knie sinken und eine Unterschlagung zugeben oder irgendein korruptes
bazi
, und sie wird alles auf die Titelseite der
New York Times
bringen, und in der Verfasserzeile wird stehen: »Mahtab Hafezi, Harvard-Abschlussjahrgang 1992«.
    »Sind amerikanische Geschäftsmänner wirklich so dumm, Saba-dschan?«
    Ruhig, Khanom Omidi! Ich erzähle doch eine Geschichte. Und in Geschichten gibt es immer diese wunderbaren Verkettungen von Zufällen, die schlaue Männer dazu bringen, all ihre Sünden zu gestehen. Es gibt immer leichte Siege. Erinnerst du dich an die Stelle in
Karate Kid
, wo Daniel dem grässlichen Johnny
folani
ins Gesicht tritt, obwohl er ein gebrochenes Bein hat? Wenn ich die Szene sehe, stelle ich mir Farnaz bei ihrer Hinrichtung vor, wie sie über die Menge blickt, als hätte sie den Plan, dem Mullah mit ihren mädchenhaften Turnschuhen ins Gesicht zu treten und sich vor dem Kran zu retten, während das Publikum aus Schaulustigen, das sie plötzlich anhimmelt, Hurra schreit.
    Mahtabs Leben ist voll von solchen unwahrscheinlichen Triumphen.
    Sie steigt schnell aus den Rängen der Praktikanten auf. Sie wird ein Zeitungsstar.
    Sie wohnt in einem kleinen Apartment in New York, das sie sich mit einer anderen jungen Frau teilt. Jeden Abend, wenn sie den Schlüssel ins Schloss steckt, ihre hübsche Tasche aus echtem Leder auf die Couch wirft und es sich vor dem Fernseher bequem macht, weiß sie, dass sie an diesem Tag etwas Bedeutendes getan hat. Aber sie will mehr. In diesem Sommer muss sie etwas Gewaltiges tun, die Welt verändern, so wie Cameron das vorhat, und ihrer Stimme über die Ozeane hinweg Gehör verschaffen.
    Wenige Wochen später deckt sie eine Reihe von raffinierten Verbrechen in der Regierung auf, und einige davon führen zu Leuten in so hohen Positionen, dass selbst ich davon absehen muss, sie hier namentlich zu nennen. Bitte frag nicht weiter nach. Ich weiß nur, dass es ein gewaltiger Skandal ist. Und mit jedem Erfolg kommt Mahtab ihrem wahren Ich näher, ihrem natürlichen Ich.
    Eines Abends, als sie in ihrem Minirock auf ihrer Couch sitzt, die Fenster weit geöffnet, die Musik laut aufgedreht, und ihr Bier so offen