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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Rampenlicht zu treten. Mahtab zu sein hat den Vorteil, dass man überhaupt keinen Partner braucht.
    * * *
    Komm, Khanom Omidi, komm und hör dir eine Geschichte über meine Schwester an. Dieses Jahr ist mir endlos und dunkel erschienen, und heute Nacht möchte ich einen Blick in ihre Welt werfen. Diesmal geht es um den Sieg über eine weitere Einwanderersorge:
Bedeutung
– die Sorge, die meine Mutter belastete, solange ich sie kannte, obwohl sie keine Emigrantin war. Meine Verwandten in Amerika leiden unter etwas Ähnlichem – Albträumen von zweitklassiger Unsichtbarkeit, von Mittelmaß und anonymem Tod. Angst vor Erbschaftsverlust und davor, Taxi fahren oder in einer Reinigung arbeiten zu müssen. Die vielen Ingenieure und Doktoren, die Böden wischen und in Kiosken Zigaretten verkaufen. Auch Mahtab hat deswegen schla f lose Nächte, denn sie weiß, dass sie Glück gehabt hat, dass sie der Welt etwas Großes schuldet. Sie möchte Gutes tun. Aber auch das wird in 22,5 Minuten vorbei sein. Sie wird es abschütteln, wie immer. Diese Geschichte handelt davon, wie Mahtab aufhört, sich darum zu sorgen, ob sie ein Leben von Bedeutung führt.
    In dem Sommer vor ihrem letzten Studienjahr ergattert Mahtab einen Ganztagsjob: eine befristete Stelle als Nachwuchsreporterin bei der
New York Times
ab Juni mit der Aussicht, nach dem Studium übernommen zu werden. Sie wird für die Reporterin Judith Miller arbeiten, ihre Fakten überprüfen und ihre vielen Rechtschreibfehler korrigieren. Sie wird in einem großen weißen Presse-Van herumfahren und auf die Jagd nach Storys und Zitaten gehen. Sie wird eine offizielle Geschichtenerzählerin werden – aber sie darf nicht lügen, nicht mal indirekt, indem sie aussucht, welche Details sie erzählt. Weißt du, diese Amerikaner haben unsere Tricks, die Wahrheit zu verzerren, durchschaut. Und das verdirbt das ganze Vergnügen. Zum Glück haben wir ja iranische Journalisten, die wissen, wie man ein schönes Märchen erzählt.
    »Ai, Saba! Lass das zweideutige Gerede. Hör auf zu jammern und erzähl deine Geschichte.«
    Also gut. In den Tagen, bevor sie nach New York abreist, um den Sommer dort zu verbringen, empfindet Mahtab einen dumpfen, aber unaufhörlichen Schmerz um Cameron, dem sie oft in der Studentensporthalle über den Weg läuft. Tagtäglich kämpft sie mit der Entscheidung, ob sie seine Kreditkarte benutzen oder loswerden soll. Jedes Mal, wenn sie ihn oder seinen mageren Geliebten auf dem Campus sieht, überlegt sie es sich wieder anders. Verstehst du, die Erkenntnis, dass du im Film eines anderen nur eine Nebenrolle hast, tut wahnsinnig weh. Manchmal wirkt Cameron traurig, wenn er sie sieht. Manchmal versucht er, Hallo zu sagen. Keiner von beiden erwähnt je die Karte, und die Tatsache, dass sie mit seiner Familie verbunden ist wie eine seltsame Verwandte, mit der sie sich überworfen haben, wird zu einem peinlichen, totgeschwiegenen Thema zwischen ihnen. An wütenden Tagen versucht Mahtab, ihn aus der Ferne zu quälen. Sie trägt eine Tasche, aus der etliche weiße Handtücher heraushängen, aber zwischen der flauschigen Baumwolle lugt eine dünne Schicht aus blau-violett karierter Seide hervor. Das Kopftuch ist verblasst, das unrechte Stück Seide, das sie bei den Aryanpurs trug, ist nun dazu verdammt, Mahtabs Schweiß aufzufangen. Sie achtet darauf, dass es deutlich zu sehen ist, um ihre Macht zu demonstrieren: Ich stehe darüber und über
dir
.
    »Ha! Genau das will Khanom Basir mit ihrem schicken alten Kopftuch auch sagen.«
    Eines Tages begrüßt Cameron sie im Fitnessraum, und sie bringt kein Wort heraus. Sie geht nur an ihm vorbei und reibt sich den Nacken mit dem blauen Tuch.
    Er ruft ihr hinterher: »Wischst du dir den Schweiß mit einem Hermès-Tuch ab, Khanom Schahzadeh?«
    Sie dreht sich um. »Sprich nicht Farsi mit mir«, zischt sie, weil ihr die Sprache ihrer Familie und ihrer beider Romanze heilig ist. »Du bist nicht mehr mein Freund.« Das wollte ich schon so oft zu Abbas sagen. Er und ich waren auf unsere eigene Weise Freunde. Jedes Mal, wenn er jetzt versucht, mit mir zu reden, möchte ich sagen:
Du bist nicht mehr mein Freund.
Aber ich habe weder Mahtabs Mut noch ihre Möglichkeiten. Sie kann sein Geld nehmen und frei sein, solange sie sein Geheimnis wahrt, ich dagegen muss das Geheimnis wahren und doch weiter seine Gefangene bleiben.
    Aber Mahtab ist menschlich, und sobald sie den Satz ausgesprochen hat, bereut sie ihn, denn was, wenn sie ihn verletzt

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