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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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fragt sie Mahtab an dem Tag nach Farnaz’ Hinrichtung. Mahtabs Stimme wirbelt durch ihren Kopf, wiederholt unaufhörlich denselben Befehl:
Hau ab! Hau ab! Hau ab!
In jener Nacht spielt sie zum ersten Mal mit einer verlockenden Möglichkeit. Was, wenn sie
jetzt
nach Amerika fliehen würde? Sie könnte versuchen, ein Visum zu bekommen, Abbas’ Unterschrift fälschen, angeben, dass ihr Mann ja im Land bleibt, was ihre Chancen verbessern würde. Doch die Angst vor
pasdars
und Grenzkontrollen hält sie zurück, wie so viele andere auch. Eines baldigen Tages – bevor sie zweiundzwanzig wird oder vierundzwanzig oder höchstens dreißig – wird Abbas nicht mehr da sein. Und wenn dieser Tag kommt, was hält sie dann noch hier in Cheshmeh? Sie muss Geduld haben, dann wird sie eine unabhängige Witwe in New York oder Kalifornien sein. Vielleicht wird sie Journalismus studieren. Schließlich hat sie auf ein Studium im Iran verzichtet, um eine amerikanische Universität zu besuchen. Sie kramt alte Reiseführer hervor, die ihre Mutter vor der Revolution gesammelt hat, und stößt auf bergeweise Formulare von Visabüros, Passämtern und Fluggesellschaften – ein Informationsschatz, den ihre Mutter für alle Fälle zusammengetragen hat. Es tröstet sie zu wissen, dass der Drang zu fliehen ererbt ist, ein Stück von ihrer Mutter, das ihr keiner nehmen kann. Eines baldigen Tages werden sich ihre Füße von der feuchten Gilaki-Erde lösen, und sie wird gehen.
    In letzter Zeit hat Khanom Omidi eine sonderbare Vorliebe für
Karate Kid
entwickelt. Sie ist auf den Film gestoßen, als sie Saba besuchte, die gerade in ihrem Kinderzimmer dabei war, die neuesten Lieferungen des Teheraners durchzusehen. Khanom Omidi versteht die Dialoge nicht, sieht sich aber aufmerksam jeden Sparringskampf und jede Trainingsmontage an und stoppt das Band gelegentlich, um Fragen zu stellen oder ihre Meinung zu äußern. »Dieser Johnny
folani
ist ein Nichtsnutz. So jung und schon so böse, und ich glaube, sein Schlangen anbetender Dojo wird von einem Dschinn verfolgt.«
    Sabas Lieblingsfilm in diesem Sommer ist
Der Club der toten Dichter
. Eines Abends, als Abbas sich früh hingelegt hat und sie mit Khanom Omidi allein ist, lässt sie die alte Frau eine Pfeife anzünden, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie reden über Liebe und Tod und Farnaz, schauen sich zusammen den Film an und trinken Tee. Mahtab wird jetzt ihr viertes Harvard-Jahr beginnen. Sie wird sich mit jungen Männern wie denen auf der Mattscheibe angefreundet haben. Wie selbstsicher sie in ihren mit Wappen verzierten Jacken und eleganten Krawatten wirken, wie souverän. So ganz anders als iranische Männer, die in ihren
pasdar
-Uniformen herumschreien oder vom Opium beduselt in irgendwelchen Winkeln ihrer Häuser herumsitzen oder wie närrisch auf verbotenen Festen tanzen. Einmal, auf einer Party ohne die Mullahs und Vetter Kasem, sah Saba spätnachts, wie Reza und sein Bruder aufstanden und tanzten. Sie schwenkten hemmungslos die Hüften und Arme, drehten die Hände hin und her. Das ist der Unterschied zwischen den Männern hier und den Männern da, dachte sie. Amerikanische Film-Männer tanzen nicht, nur höchstens mal einen Walzer im Smoking. Iranische Männer tanzen, um Eindruck zu machen. Vielleicht haben westliche Manieren ihre natürliche Wildheit erstickt. Iraner haben dafür
pasdars
.
    Nach der Hälfte des Films wird sie von der Pfeife allmählich schläfrig. Sie nickt auf Khanom Omidis Schoß ein, während ihre Gedanken an ihre Schwester und ans Tanzen zu einer Erinnerung verschmelzen.
    Mahtab tanzte oft. Als Kind tobte sie gern ausgelassen herum und wurde zum plötzlichen Zentrum eines Aufmerksamkeitsvakuums. Das ist eines der persischen Merkmale, die sie sich wahrscheinlich bewahrt hat. Nach stundenlangem Kreiseln mit anderen Paaren in Kleidern und Smokings wird Mahtab sich danach sehnen, im Mittelpunkt zu stehen. In ihrem berauschten Zustand kann Saba es sehen, eine filmreife Szene. Mahtab wird ihren Begleiter beiseiteschieben, und plötzlich, wie aus dem Nichts, erklingen
setar
-Musik und iranische Verse. Vielleicht läuft mitten auf dem Harvard Square
Sultan der Herzen
. Ein Wunder!
    Ein Herz sagt mir, ich soll gehen, gehen.
    Ein anderes sagt mir, ich soll bleiben, bleiben.
    Nur dass Mahtab nicht darüber nachdenkt, ob sie gehen oder bleiben soll. Sie ist bereits genau da, wo sie sein will. Sie wird allein in ihrem eleganten Kleid tanzen, und niemand wird es wagen, zu ihr ins

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