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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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trinkt, dass die Nachbarn es sehen können, trifft die Antwort zusammen mit einem Berg von Reklamesendungen und Rechnungen ein. Es ist ein zerfledderter Umschlag aus dem Iran, bedeckt mit zig Stempeln und Briefmarken. Er riecht nach Reis, und die Adresse ist in einer sorgfältigen und unsicheren Handschrift geschrieben worden – von einer Person, die keinen Schulabschluss hat, kein Englisch kann und die Anschrift offenbar über ein Zeitungsexemplar ausfindig gemacht hat. Er ist von einer gewissen Miss Ponneh Alborz, Cheshmeh, Iran.
    Kann das wahr sein? Ihre Kindheitsfreundin Ponneh hat ihr geschrieben? Was mag ihre verloren geglaubte Freundin zu erzählen haben? Wird ihr Brief voller Geschichten über Reza und seine verrückte Mutter sein, über die Gesundheit ihrer Schwester? Welches Glück, einen Brief aus Cheshmeh in Händen zu halten.
    Sie reißt den zerknitterten weißen Umschlag auf und lässt den Inhalt herausrutschen.
    Plötzlich ist alle Freude dahin, denn auf ihrem Tisch häufen sich Fotos, Briefe, ein Videoband und ein paar Tonaufnahmen. Die Fotos sind grauenhaft. Sie zeigen, wie eine schöne junge Frau aus einem Lieferwagen gezerrt und dann an einem Kran erhängt wird. Es fällt ihr schwer, die Fotos auch nur anzufassen. Eine hingekritzelte Erklärung lautet: »Meine Freundin Farnaz: verurteilt wegen Aktivismus und weil sie Frauen liebte.«
    Ah, aber verzweifle nicht, Khanom Omidi. Für Mahtab sind diese Fotos eine Chance. Sie ist clever genug, um genau zu wissen, was sie damit machen muss. Schließlich arbeitet unsere Mahtab ja jetzt bei der
New York Times
. Sie ist unsere Kämpferin, und sie ist mit einem Videoband bewaffnet, das ich eigenhändig aufgenommen habe.
    Die darauffolgende Woche verbringt sie damit, sich das Video anzusehen, zurückzuspulen und es sich erneut anzusehen. Es ist unmöglich, sich nicht näher zum Fernseher zu beugen, um in das Gesicht der schönen Farnaz zu blicken und zu versuchen, ihre Wange zu berühren, ehe sich die Kapuze darübersenkt. Ist etwas Derartiges tatsächlich passiert? Das frage ich mich selbst manchmal tief in der Nacht, wenn ich mir den körnigen Film anschaue, um mich zu quälen und mich dadurch lebendig zu fühlen. Trotz der zitternden Hand, der Störungen und des schwarzen Tschadors, der das Objektiv alle paar Sekunden verdeckt, ist das Bild nicht anzuzweifeln. Es ist passiert. Ich war dort.
    Mahtab wischt sich die Tränen mit einem karierten Tuch ab, das im Vergleich zu dem Geschehenen nicht mehr sehr viel Bedeutung birgt. Wenn sie jetzt an Cameron denkt, hasst sie ihn nicht mehr. Nicht, nachdem sie die Tragödie auf diesem unscharfen Video gesehen hat. Sie hat jetzt eine Ahnung davon, welche unfassbaren Dinge von Menschen wie ihm getan werden müssen. Er ist ein guter Mann, ein Mann mit aller Männlichkeit der Welt, ungeachtet dessen, was sein Vater denkt, denn er ist bereit, in ein Land zurückzukehren, das ihn wegen seiner Neigungen töten will;
dieses
Schicksal zu riskieren, um ein Leben zu führen, das von Bedeutung ist. Sie denkt zurück an die Zeit, als sie die obere Hälfte eines Seesterns war, und beschließt, dass es besser ist, diese schöne Erinnerung in Ehren zu halten, als ihn dafür zu hassen, dass er sie nicht begehrt.
    Oh, aber er wollte dich, Mahtab. Es gibt mehr als nur eine Art, sich nach jemandem zu sehnen. Und schau dir Cameron jetzt mal an, wie er seinem Leben einen Sinn gibt. Er ist dabei, sich dem Universum für das Glück erkenntlich zu zeigen, das er im Leben hat. Mahtab wird das ebenfalls tun.
    Sie wird ein mutiges Leben führen, wie Daniel LaRusso in
Karate Kid
oder Professor Keating im
Club der toten Dichter
, die beide angesichts eines bedrohlichen Unheils so tapfer sind. Während sie mithilfe aller Beweismittel, die Ponneh ihr geschickt hat – Dr. Zohrehs schriftlicher Aussage, der Bilder und des Videos –, ihren Bericht schreibt, denkt sie über die Aryanpur-Kreditkarte nach. Die wird sie nicht von ihren Wünschen befreien, wie sie jetzt begreift. Das kann heimlicher, unverdienter Reichtum niemals leisten. Tief in ihrem Innern weiß sie, dass sie eine solche Freiheit nur dann haben wird, wenn sie ein Leben führt, wie Maman es wollte, ein bedeutendes Leben, ein Leben, das von der Welt zur Kenntnis genommen wird.
    Und da haben wir’s. Mahtab verbringt einen Sommer in New York und besiegt eine Einwanderersorge, mit der manche ihr ganzes Leben lang zu kämpfen haben, weil nur wirklich außergewöhnliche Menschen sie

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