Ein Teelöffel Land und Meer
und zum rechten Zeitpunkt und gut. Sie kann sehen, dass Abbas darauf gewartet hat zu sterben und dass es ein Geschenk und eine Gnade ist, die Welt friedlich zu verlassen, ohne den Stachel der Gewalt, der so viele Tode hier begleitet. Das muss Abbas klar sein. Sie legt den Hörer wieder auf und geht zurück in Abbas’ Zimmer, wo Ponneh ihm die Stirn fühlt. Auch sie fühlt sich offenbar schuldig.
»Ich ruf den Arzt nicht an«, sagt Saba mit matter Stimme. Sie fällt Ponneh in die Arme. Ponneh streichelt ihr übers Haar und sagt, dass alles gut wird. Wenn Saba mit Abbas sprechen würde, könnte er sie hören? Sie weiß es nicht, denn das Licht in seinen Augen erlischt allmählich. Ponneh flüstert ihr ins Haar: »Sag es ihm.«
Saba nestelt an ihrer Bluse. Im Zimmer ist es heiß geworden. Sie fährt sich mit der Hand durch das lange Haar. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie setzt sich neben ihn aufs Bett.
Ponneh rückt den Stuhl näher heran. »Dann fang ich an«, sagt sie und beugt sich vor. Sie setzt mehrmals an, überlegt es sich dann wieder anders. Schließlich sagt sie: »Auf Wiedersehen, Abbas … wiederhol einfach, was ich sage, Saba-dschan. Los … verabschiede dich von ihm.«
»Auf Wiedersehen«, stöhnt sie, unfähig, mehr als diese beiden Wörter herauszubringen.
»Mögest du anderswo Frieden finden«, sagt Ponneh mit fester Stimme, obwohl sie improvisiert.
»Ich hoffe, dass du im Himmel Frieden findest –«, sagt Saba. Es kommt ihr so vor, als würde sie beten, als sie Ponnehs Worte wiederholt. Als sie noch ein kleines Mädchen war, erklärte ihre Mutter, wie man beten sollte. Sie sagte, dass jeder Mensch seine eigenen Worte finden müsse. »Das ist der Unterschied zwischen einem christlichen Gebet und einem muslimischen Gebet«, erläuterte sie Saba und Mahtab. »Wir beten nicht im Chor. Wir erzählen Gott, was in unserem Herzen ist.« Jetzt rührt sich etwas in ihrem Innern, und sie spürt, dass alles, was sie sagen will, aufbrodelt, aus dem Mund des verletzten Tieres, das dort liegt, an die Oberfläche steigt. Sie schluckt trocken und hört zu, wie Ponneh versucht, fortzufahren.
»Aber was du getan hast … Gott, das war … böse.« Das Stählerne in Ponnehs Stimme ist verschwunden, und sie wirkt unsicher, zittrig, vielleicht zu jung für das alles hier. Aber das Gift muss heraus. Saba will keine Hilfe mehr. Sie bedeutet Ponneh mit einem Winken, dass sie aufhören soll.
Sie holt tief Luft und sagt: »Das genügt jetzt«, dann leckt sie sich die Lippen. »Abbas …« Sie stockt und erwägt die Möglichkeit, dass Abbas es absichtlich getan hat. Glaubt er an den Himmel, so wie Agha Mansuri das tat? Falls ja, wird auch er jemanden brauchen, der bezeugt, dass er nicht die schlimmste Sünde von allen begangen hat. »Du hast einen Fehler mit den Medikamenten gemacht. Es war nur ein Fehler, aber ich kann ihn nicht für dich rückgängig machen. Ich hab dir viel Zeit gelassen, und zu Anfang waren wir Freunde, weißt du noch? Aber jener Tag –« Sie verstummt. Es ist sinnlos, noch mal davon anzufangen. »Ich kann dir jetzt nicht helfen. Du bist nicht mehr mein Freund.« Als sie fertig ist, erhebt sie sich. Sie kann sich nicht mehr an ihre Worte erinnern, aber sie spürt gerade dadurch, wie gewichtig sie gewesen sein müssen. Sie berührt Abbas’ welkes Gesicht, das jetzt kalt geworden ist, und fügt hinzu: »Ich hoffe, du findest deine Frau.« Dann geht sie aus dem Zimmer, erfüllt von Gedanken daran, was es heißt, Christin zu sein, und wie enttäuscht ihre Mutter darüber wäre, dass Saba beschlossen hat, ihr Kreuz von sich zu werfen und sich abzuwenden. Doch vielleicht braucht die Welt nicht so viele Märtyrer und Kreuzträger. Vielleicht ist Saba aber auch einfach nicht gläubig.
Ponneh schließt die Tür hinter ihnen. Sie warten draußen. Saba streichelt sich den Hals, weil das Kitzeln in der Kehle unerträglich geworden ist. Sie holt ein paarmal tief Luft und versucht, sein Atmen auszublenden. Ponneh läuft in die Küche, um Tee und Taschentücher zu holen. Saba merkt es gar nicht, als sie zurückkommt. Irgendwann hört das Geräusch auf, sie schläft auf dem Flur vor Abbas’ Schlafzimmer ein und wacht erst bei Tagesanbruch wieder auf.
Am nächsten Morgen ist Abbas tot, und Saba ist eine reiche Witwe, eine ungezähmte Seeschwalbe in Krähenkleidung, die dunklen Augen niedergeschlagen, der rote Mund verschmiert und glänzend wie Blut, die in einer Reihe von schwarzen
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