Ein Teelöffel Land und Meer
Gastgeber. Ich hab ein paar gute Witze auf Lager.«
Sie starrt in seine trüben Augen und denkt, dass sie Gefahr läuft, seine Freundlichkeit anzunehmen. Seine anrührende Unsicherheit, ob er ihr Ehemann oder ihr Vater ist. Sie spürt, dass ihre Entschlossenheit rissig wird, und geht weg. Er ist bloß ein alter Mann, wie Agha Mansuri … Aber nein, Agha Mansuri liebte seine Frau über alles. Wie kann sie sein Andenken entehren, indem sie diesen lieben, gütigen Mann mit dem Unmenschen vergleicht, der in ihrem Haus lebt.
Sie bringt das schmutzige Glas in die Küche. Sie spült es und stellt die Medikamente zurück in den Schrank. Eines der Röhrchen, das halb voll mit Abbas’ Blutverdünnern war, als sie ihr abendliches Ritual begannen, fühlt sich jetzt erschreckend leicht an. Nur wenige Tabletten klappern noch darin herum. Sie zählt sie, und ihr Herz flattert, als sie an Agha Mansuri denkt und seine letzten Versuche, das Schicksal und den Tod zu überlisten. Aber sie kann sich nicht erinnern, wie viele Tabletten es noch sein müssten. Hat Abbas begriffen, dass die Medizin bereits in dem Kirschsaft war? Was, wenn er den üblichen Ablauf vergessen hat und dachte, dass sie ihm Wasser gegeben hat, um sie runterzuspülen?
Ausgeschlossen.
So haben sie es doch von Anfang an gemacht. Medizin
im
Getränk. Außerdem weiß Abbas, wie gefährlich es ist, mehr als die übliche Dosis Tabletten einzunehmen. Er schluckt sie, um Blutgerinnsel zu vermeiden und die Blutzirkulation zu verbessern. Zu viel davon kann tödliche Blutungen und einen Schlaganfall verursachen.
Nein
, denkt sie.
Er war es doch, der mir das erklärt hat.
Später in der Nacht hört sie Abbas nach ihr rufen. Sie kauert sich vor seine Tür. Er wirkt verwirrt. Er redet unsinniges Zeug, lallt die Silben ihres Namens. Sie hört ein Poltern, als wäre er irgendwo gegengestoßen. Sie wartet vor der Tür, geht aber nicht hinein. Stattdessen lehnt sie sich an die Wand und zieht die Knie an die Brust, lauscht dem Kampf ihres Mannes. Dann ist er wieder für ein paar Minuten still und fängt schließlich an zu schnarchen. Sie schläft ein- oder zweimal ein, wird aber von Abbas’ gequälter Stimme und dem Pochen ihres eigenen Herzens aufgeschreckt.
Wie viele Pillen waren vor heute Abend in dem Röhrchen?
Sie überlegt, den Arzt anzurufen. Als es einen Moment still wird, öffnet sie die Tür und geht zu Abbas. Sie beugt sich über ihn und lauscht seiner Atmung, die normal wirkt.
»Soll ich den Arzt anrufen?«, flüstert sie, unsicher, ob er sie hören kann. Dann stößt er ein leises Stöhnen aus, und eine unerklärliche Panik steigt in ihr auf, genau das gleiche Gefühl, das sie in den zehn Tagen hatte, als sie sich um Agha Mansuri kümmerte. Jeden Morgen, wenn er auch nur mit einer Minute Verspätung an seine Tür gehinkt kam, empfand sie die gleiche drängende Furcht.
Sie läuft zum Telefon und wählt die Nummer des Arztes, stößt den Finger in die Löcher der Wählscheibe und nimmt dann einen Bleistift zu Hilfe, weil ihre Hände zu sehr zittern. Es meldet sich niemand. Sie überlegt, ob sie hinfahren soll. Aber er wohnt in einem Nachbardorf und ist bloß Allgemeinmediziner. Die große Praxis im Ortszentrum hat schon geschlossen – und auch dort arbeiten nur praktische Ärzte, Krankenschwestern und Hebammen. Sie müsste eine Stunde bis Rasht fahren, um Abbas’ Herzspezialisten oder ein Krankenhaus zu erreichen. Soll sie einen Krankenwagen rufen? Das würde wahrscheinlich ebenso lange dauern. Schließlich wählt sie die Nummer von Ponnehs Nachbarn, der ein Telefon hat und ihre Freundin verständigen kann.
Seit der Hinrichtung verbringt Ponneh nicht mehr so viel Zeit mit Saba wie früher. Saba vermutet, dass ihre Freundin viel mit Dr. Zohreh zu tun hat. Aber Ponneh kommt noch immer mehrmals in der Woche vorbei, pflanzt Kräuter in Sabas Garten und kocht mit ihr.
Zehn Minuten später klingelt das Telefon, und eine atemlose Ponneh will wissen, was los ist, warum ihr Nachbar sie aus dem Bett geholt hat. Als sie die Erklärung hört, sagt sie bloß: »Bin gleich da«, und legt auf.
Saba geht zurück zu Abbas. Sein Stöhnen klingt für eine Weile ab, und sie redet sich ein, dass alles in Ordnung ist, doch dann entdeckt sie das Erbrochene in einer Ecke des Bettes. Sie hastet in die Küche, um ihm Wasser zu holen und ein Handtuch, und denkt über dieses unerwartete Entsetzen angesichts seines möglichen Todes nach. Wieso überkommt es sie, wo sie doch so lange von
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