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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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diesem Tag geträumt hat? Sie versucht, Abbas etwas Wasser einzuflößen, wäscht ihn und hockt sich dann wieder vor seine Tür. Sie schläft immer mal wieder ein und träumt von einer traurigen Melodie über einen amerikanischen Fischer auf einem Boot namens
Alexa
. Das Lied lässt sie an Mahtab denken und an die rauen Hände des Fischers, der sie aus dem Kaspischen Meer zog. In ihrer Benommenheit hört sie Abbas’ Stimme, und der unerträgliche Klang lässt sie nach Luft schnappen.
    Sie wird wach, als Ponneh an ihrer Schulter rüttelt. »Wie geht’s dem alten Teufel?«
    »Schsch«
, warnt Saba. »Sag so was nicht. Was, wenn er stirbt?«
    »Was dann?« Ponneh blickt verblüfft und belustigt. »Saba, das muss doch irgendwann passieren. Er ist so alt. Er hat viel mehr Zeit gehabt, als er verdient. Wir bleiben einfach hier sitzen und warten.«
    Ponnehs eiskalter Gesichtsausdruck irritiert sie. Abbas ruft, und Saba eilt an seine Seite. Sein unruhiger Blick wirkt flehend, und sie muss an die vielen Gemeinheiten denken, die sie ihm in dem möglicherweise letzten Jahr seines Lebens zugemutet hat. Noch vor wenigen Stunden bettelte er darum, Obst für sie kaufen, ihr beim Lesen zuschauen oder ihre Freunde bewirten zu dürfen, und sie hat ihm eine Abfuhr erteilt wie einem Händler auf dem Markt. Sie berührt die kalte, schlaffe Haut seiner Hand. »Es tut mir leid«, flüstert sie.
    Ponneh tigert hinter ihnen auf und ab, hat ihr Kopftuch bereits abgelegt. Sobald die Entschuldigung über Sabas Lippen kommt, stößt Ponneh ein tonloses Schnauben aus. »Saba, du wirst es bereuen, das garantier ich dir. Du wirst dich in alle Ewigkeit hassen, wenn du dich von deinen Gefühlen überwältigen lässt. Sag ihm, dass das, was er getan hat, unverzeihlich war. Du wirst nie wieder die Gelegenheit dazu haben.«
    »Hör auf! Ich tu, was ich kann«, sagt Saba. »Vorhin ist der Arzt nicht ans Telefon gegangen. Bitte, versuch noch mal, ihn anzurufen. Weißt du, was, bestell auch gleich noch einen Krankenwagen.«
    Ponneh drückt ihren Protest durch ein weiteres Schnauben aus, als sie ins Wohnzimmer zum Telefon stapft. Eine Minute später ist sie wieder da und sagt: »Er kommt gleich.«
    »Wann?«
    »Ich hab gesagt, gleich!« Ponneh klingt wütend, als wäre es
ihr
Leben, das gerade außer Kontrolle gerät. Sie wippt mit einem Fuß, während Saba auf der Suche nach Symptomen Abbas’ Zunge inspiziert, seine Augenlider. Wie blass sind die normalerweise? Sie erinnert sich daran, dass der Arzt irgendwas über die Arme gesagt hat.
    »Abbas-dschan, heb den Arm«, ruft sie. »Heb den Arm für mich.« Keine Reaktion.
    Ponneh murmelt: »Du wirst es bereuen.«
    Als Saba nichts mehr einfällt, was sie machen kann, setzt sie sich auf einen Stuhl neben Abbas’ Bett und beobachtet ihn. Ponneh beugt sich über den alten Mann und horcht auf sein Herz, wobei ihre Haare auf seine Brust fallen. Sie sieht aus wie ein junges Mädchen, das über einen schlafenden Großvater wacht. Vielleicht rechnet sie damit, dass Abbas in dieser Nacht stirbt. Seine Augen sind kalt, ein Anblick, der einen frösteln lässt.
    Hat Saba etwas falsch gemacht? Sie gibt die Medizin
immer
in das Getränk. Das hatten sie so vereinbart. Aber wahr ist auch, dass sie in letzter Zeit zerstreut war. Hat sie eine ihrer vagen Fantasievorstellungen umgesetzt? Ist das möglich? Nein. Sie hat nichts getan. Nur das: Einen Moment lang, während sie fernsah und von ihrer Schwester träumte, überließ sie jemand anderem die Führung, einer wilden Kreatur, die in ihr lebt und ein karges Dasein fristet. Ein Ungeheuer, das nie seinen Willen durchsetzen kann. Manchmal, in ihren grausamsten Tagträumen, wenn Abbas ins Kaspische Meer geworfen oder ausgeweidet wird, fürchtet sie, dass sie genauso ist wie die Basidsch-Frauen. Dass auch in ihr eine bösartig grinsende Bestie lauert, die nur deshalb sicher weggesperrt bleibt, weil Saba reich ist und Familie hat. Ein leerer Magen kann überzeugend argumentieren, und vielleicht hat sie, übermannt von ihren eigenen Sehnsüchten und angesichts eines weiteren einsamen Sonnenuntergangs, losgelassen, und die Bestie konnte sich befreien. Hat Saba nicht vielleicht etwas mehr Sauerkirschen als sonst in das Getränk gegeben? Hat sie versucht, einen verräterischen Geschmack zu überdecken?
    »Nein«, sagt Saba laut. Sie hat nichts getan. Sie hat die genau richtige Menge abgezählt.
    Sie geht zurück in die Küche, um die Gläser zu untersuchen, weil sie mit einem

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