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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Krähenschwestern trauert. Die Frauen um sie herum berühren sie am Kopf und küssen ihre Wangen, und manche von ihnen flüstern, dass sie ein sehr begütertes Leben vor sich hat. Aber unter ihren schwarzen Stoffschichten hält sie an ihrem lebenslangen Wunsch fest, fortzufliegen, zu ihrer Mutter in Amerika. Um ihre Sünden persönlich zu erklären.
    Abbas’ Tod wird als Unglücksfall eingestuft – ein Schlaganfall, der angesichts der wenigen noch verbliebenen Tabletten durch zu viel Blutverdünner ausgelöst worden sein könnte. Obwohl Saba benommen und unsicher ist, erklärt sie dem Arzt, dass Abbas an diesem Abend seine Medikamente selbst eingenommen hat. Vielleicht hat er zu viele Tabletten genommen. Sie hat gelernt, wie eine erfahrene Geschichtenerzählerin Joghurt über alles zu streichen, und ist so an ihr eigenes Joghurtgeld gekommen. Sie ist eine Großmeisterin des
maast-mali
geworden.
    Eine Überdosis ist beklagenswert, sagen die Ärzte, aber er war ein alter Mann. Letztlich macht sich keiner groß Gedanken deswegen. Es ist nichts sonderlich Ungewöhnliches geschehen, und für einen Skandal ist es nicht interessant genug. Abbas hatte ein erfülltes Leben, und es gibt keine Schwiegermutter, die viel Aufhebens machen könnte.
    * * *
    Das ist das Problem mit dem Altsein. Keine Mutter, die viel Aufhebens um dich macht, wenn du krank bist oder auch bloß in einem imaginären Meer ertrinkst.
Ich fühle mich so alt.
Fünf Tage nach ihrer letzten Periode hockt sie wieder über dem Porzellanloch im Boden, die Füße fest auf die Tritte zu beiden Seiten gestemmt, und packt sich in Watte. Ihre Blutungen sind unregelmäßig, und sie fragt sich, wie viele innere Schäden sie eigentlich zurückbehalten hat, an den Stellen, die sie nicht sehen kann.
    In ihrer ersten Nacht allein im Haus hat sie Albträume, in denen ihre Mutter, Abbas und Mahtab vorkommen. Sie schaltet das Licht an und liest, um sich davor zu schützen, was sie getan hat – dass sie zugelassen hat, dass Abbas stirbt, dass Mahtab in das Flugzeug steigt oder auf den Grund des Meeres sinkt. So oder so, Saba war dabei. Hätte sie den Verlust von Mahtab irgendwie verhindern können? Und kann eine Person, die so viele Monate hindurch ihren Ehemann gequält hat, noch von irgendjemandem geliebt werden?
    Manchmal erschrickt sie vor sich selbst, weil sie ihn vermisst, und ihr wird klar, dass sie sich nicht deshalb schuldig fühlt, weil sie ihn hat sterben lassen, sondern weil sie sein letztes Jahr zu einer Art Fegefeuer gemacht hat. Hatte sie als Ehefrau das Recht dazu? Oder als Opfer des
dalak
-Tages? Zu Abbas’ Beerdigung trägt sie Schwarz und stellt sich den Männern, die sie beäugen, manche argwöhnisch, manche mitleidig. Das Ganze hat etwas Verjüngendes an sich. Während stundenlang Leute an Saba vorbeiziehen und ihr Beileid bekunden, stellt sich eine allmähliche Gewissheit ein – das Wissen, dass keiner von denen ihr nehmen kann, was ihr gehört. Keiner kann sich einem Leben in den Weg stellen, für das sie jetzt, gänzlich ungebunden, selbst verantwortlich ist.
    Auf der Beerdigung erblickt sie Reza. Obwohl sie nicht mit ihm spricht – das darf eine trauernde Witwe nicht –, sieht er sie zweimal lange an, mit der Zärtlichkeit ihrer jahrelangen Freundschaft. Er nickt traurig und spricht dann ihrem Vater sein Beileid aus. Ponneh bleibt die ganze Zeit an Sabas Seite. In vier Monaten ist ihre Trauerzeit vorbei, und sie darf wieder heiraten, obgleich sie keineswegs die Absicht hat. Sie wird nach Amerika gehen.
    Doch zuerst heißt es: vier Monate in Krähenkleidung.
    Saba zählt die Freunde von Abbas und ihrem Vater, während sie ihre Gebete sprechen, und sie taxiert die Leute um sie herum – diejenigen, die in der Schuld ihres Mannes stehen oder in der ihres Vaters. Agha Hafezi drückt beruhigend ihre Hand, und Saba begreift, dass die gebeugten Köpfe jetzt auch in ihrer Schuld stehen. So vieles, was Abbas gehörte und ihrem Vater, gehört jetzt ihr. Nicht bloß Vermögen. Sondern ein Name, eine Reputation, eine Kraft, Dinge zu verändern.
    Vielleicht wird sie jetzt wie Mahtab, die Journalistin. Vielleicht kann Saba sogar noch mehr tun. Sie erinnert sich an die Worte ihrer Mutter am Flughafen, dass sie nicht weinen, sondern im Angesicht des Leids ein Riese sein soll. Was sagte ihre Mutter noch mal so gern?
    Ich bin nicht das Mädchen mit den Schwefelhölzern
, denkt sie und sagt es laut, sodass Ponneh es hört. Das verdankt sie nicht dem unanfechtbaren

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