Ein Teelöffel Land und Meer
solchen Fehler niemals leben könnte. Aber sie sind bereits gespült. Sie kehrt ins Schlafzimmer zurück, beugt sich über Abbas und umschließt seine Hand mit ihren. »Abbas, der Arzt ist unterwegs. Aber du musst mir eines sagen: Hast du Medizin in den Saft getan?« Sie sieht ihm forschend in die Augen. »Hast du?«
Er gibt ein unverständliches Geräusch von sich. Dann scheint er zu nicken.
Erleichterung und Panik spülen über sie hinweg, unmittelbar gefolgt von Fassungslosigkeit. »Weißt du denn nicht, wie wir das immer machen?
Ich
gebe die Tabletten in das Glas!« Er nickt erneut, und sie fragt sich, ob er überhaupt versteht, was sie sagt.
Ehe sie einen Moment überlegen kann, ist Ponneh neben ihr. »Sag es ihm«, flüstert sie. »Saba-dschan, sag es ihm jetzt.«
Der Druck von allen Seiten wird zu groß, und sie dreht sich um und kreischt Ponneh an: »Was soll ich denn sagen? Was? Du solltest herkommen und mir helfen! Und was
machst
du? Und wo bleibt eigentlich der Arzt, verdammt?«
Ponneh wird nicht laut. Sie sagt: »Ich hab ihn gar nicht angerufen.«
Saba ist wie erstarrt. Sie tastet nach dem Stuhl und lässt sich daraufsinken.
»Hast du diesen Tag vergessen?«, schreit Ponneh. »Weißt du nicht mehr? Die Frauen und ihre Geräte und dass sie dich behandelt haben wie einen dreckigen Lappen?« Saba vergräbt das Gesicht in den Händen und drückt den Kopf zwischen die Knie. Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie aufstehen und den Arzt anrufen soll oder ob es zu spät ist. Hat Abbas etwas von dem Gespräch mitbekommen? Ponneh scheint seine Anwesenheit gar nicht zu registrieren. »Ich weiß, dass dich das hier nicht kaltlässt, und man vergisst es so leicht, wenn man sieht, wie alt er ist … und wie traurig es ist, dem Tod so nahe zu sein. Aber weißt du noch etwas, Saba-dschan? Ich weiß, dass du nicht allein sein willst. Und das wirst du auch nicht. Du hast mich und eine richtige Familie. Und du hast Reza.« Ponneh setzt sich auf den Boden neben dem Stuhl. Sie blickt zu Abbas hinüber, verschränkt die Finger mit Sabas und sagt in ihrer kindlichen Stimme: »Wir drei, für immer.«
Saba schüttelt den Kopf. Nein, sie hat es nicht vergessen. Die Erinnerungen an den
dalak
-Tag sind so frisch wie eh und je, und sie kann sich nicht davon reinigen, trotz der vielen Nachmittage, die sie damit verbringt, sich in ihrem Hamam zu waschen. Die Einzelheiten dieses Tages dehnen sich in ihrem Kopf aus, schwellen an und drücken ihr gegen den Schädel, bis für nichts anderes mehr Raum bleibt. Es gibt nur das: ihren keuchenden Atem. Ihre Hand an ihrem Hals. Ihr weit gespreizter Körper auf dem Bett und das Blut unter ihr. Es ist vor über einem Jahr passiert, und doch sucht es Saba täglich heim, nächtlich. Es passiert auch jetzt wieder.
Sie steht auf, will erneut den Arzt anrufen, weicht Ponnehs Blick aus. Im Wohnzimmer nimmt sie den Hörer und beginnt zu wählen, denkt an ihr vergeudetes Leben hier in diesem Haus. Sie erinnert sich an die grausame Behandlung, die sie diesem Mann zugefügt hat, und daran, wie Agha Mansuri darum flehte, mit seiner Frau im Himmel vereint zu sein. Sie denkt an ihre ersten Nächte mit Abbas, seine Anekdoten über die Wärme seiner ersten Frau. Vielleicht hat Ponneh ja recht, und er hat ein reiches und gesegnetes Leben gehabt.
Sie wählt ein paar Ziffern, mit schweren, zittrigen Fingern. Was, wenn Abbas ihr Gespräch mit Ponneh gehört hat? Er könnte mitbekommen haben, wie lange sie gebraucht hat, um über sein Schicksal zu entscheiden. Er könnte sogar vergessen haben, dass er die zweite Medikamentendosis selbst eingenommen hat. Welche wilden Behauptungen wird er gegenüber den Medizinern und Gesetzeshütern erheben, die das Haus mit Sicherheit bevölkern werden?
Dann denkt Saba daran, dass Abbas genickt hat, als sie ihn fragte, ob er sich an den normalen Ablauf erinnert. Es wäre möglich, dass er die zweite Dosis absichtlich genommen hat. Bei dem Gedanken zieht sich ihr der Brustkorb zusammen – das Bild des alten Mannes, der das Zusammensein mit seiner ersten Frau genauso anstrebt, wie Agha Mansuri es getan hat. Vielleicht ist es eine Gnade. Vielleicht sollte sie die Macht nutzen, die ihr gegeben wurde, und diesen Mann mit seiner wahren Ehefrau vereinen. Agha Mansuri hat so sehr versucht zu sterben; er hat seine Tabletten verlegt und die Öfen brennen lassen und Saba angefleht, ihm zu helfen. Wie ein Engel des Todes hielt sie seine Hand, als er hinüberging, und es war leicht
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