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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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misshandelt und verstümmelt wurde und dieser Mann vermutlich bis vor wenigen Tagen nicht mal von Abbas’ Existenz wusste. Eine zynische Stimme in ihr gratuliert den Männern dieser Welt zu einem überzeugenden Sieg.
    »Keine Sorge, Agha Hafezi«, sagt der Mullah. »Er ist bloß ein Halbbruder mütterlicherseits. Er hatte dieselbe Mutter wie Agha Abbas, und da die arme Frau kürzlich verstorben ist, bleibt er als Einziger übrig. Der Mann lebt im Süden und ist selbst dem Tode nah, aber noch lebendig genug, um zu erben. Wir haben uns bereits mit ihm in Verbindung gesetzt. Das Recht schreibt vor, dass er ein Sechstel erhält.«
    »Und der Rest?«, fragt ihr Vater.
    »Falls niemand sonst erbberechtigt ist, teilen wir den verbleibenden Besitz anteilmäßig auf Sie und den Halbbruder auf.« Er sieht Saba an und erläutert langsam die Logik, wobei er ihr zuliebe den mathematischen Teil überspringt. »Das heißt, Sie erhalten das meiste, mein Kind.«
    Sechzig Prozent
, kalkuliert Saba rasch im Kopf, noch bevor ihr Vater es fürs Protokoll ausspricht. Der Mullah wartet einen Moment. Als Saba keine Dankbarkeit erkennen lässt, sagt er: »Ich habe das mit meinen Kollegen erörtert. Sie wollten die Suche nach männlichen Erben fortsetzen. Sie hatten Bedenken … es ist so viel Geld für eine junge Frau, und wir sind hier nicht in Teheran. Ich selbst reise oft nach Teheran, und ich weiß, dass viele gute muslimische Witwen ihr eigenes Geld anstandslos verwalten. Andere denken nicht so modern. Da können Sie wirklich von Glück sagen. Frauen sind nicht dazu bestimmt, die Last einer solchen Verantwortung zu schultern.«
    Agha Hafezi nickt hö f lich für den Mullah. Er kneift Saba in den Arm, wie früher, als sie klein war, wenn sie beide einen heimlichen Scherz miteinander teilten. »Ich pass auf sie auf«, versichert er dem Geistlichen. »Ich werde darauf achten, dass sie hin und wieder auch mal ein Buch und Stifte kauft, nicht immer bloß Stoffe und Kochutensilien.«
    Saba beißt sich auf die Wange. Ihr Vater hat immer gern gewitzelt, dass sie das gesamte Familienvermögen auf den Kopf hauen würde, wenn man sie unbeaufsichtigt in einen Laden mit ausländischen Büchern ließe. Und sie kennt ihren Vater gut genug, um zu begreifen, dass die Erwähnung von Kochutensilien eine unterschwellige Botschaft an sie ist – dass er von seinem Haus aus über sie gewacht hat, dass er nicht nur ihre Hobbys kennt, sondern auch genau weiß, welche alltäglichen Dinge sie für wertlos und banal hält, worin sie ihrer Mutter sehr ähnelt.
    »Gut«, sagt der Mullah. »Ehe wir die Besitzurkunden, Bankkonten und sonstigen Papiere überschreiben, muss ich noch ein paar Dinge ansprechen, Formalitäten. Wissen Sie, für die Berechtigung, ein Erbe anzutreten, gibt es nur zwei Bedingungen. Und da wir bereits wissen, dass Ihre Tochter ihren Mann nicht
ermordet
hat«, er lacht kurz, »muss sie nur noch bezeugen, dass sie eine wahre Muslimin ist.«
    Sie denkt zurück an alles, was sie verloren hat, und den hohen Preis, den sie bereits zahlen musste. Die Blutungen. »Ja«, haucht sie, ohne den Mullah anzuschauen. »Ja, natürlich bin ich Muslimin.«
Das ist bloß ein weiterer Schritt. Eine Lüge mehr nach all den anderen.
Bloß eine Form von Geldwäsche, wie sie bei heimlich gebunkertem, unverdientem Kapital erforderlich ist.
    Ihr Vater starrt zu Boden. Seine Augen blicken traurig, und einen Moment lang wirkt Agha Hafezi, ausgebuffter Geschäftsmann, Student der Religion und des Geistes, wie ein einfacher Gilaki-Bauer.
    Als sämtliche Papiere unterzeichnet sind, stehen Vater und Tochter auf, um zu gehen. »Da wäre noch etwas, worauf ich Sie hinweisen muss«, sagt der Mullah zögerlich. Er spitzt die Lippen und bläht die Nasenflügel. Saba hat schon bemerkt, dass er das immer macht, wenn er nach den richtigen Worten sucht.
    »Sie müssen wissen, dass Abbas’ Verwandte keine Ahnung von dem Geld hatten. Schließlich hat er in einem Dorf gelebt. Da konnte er ja wohl nicht viel besitzen. Das ist ein unverhoffter Glücksfall für sie.« Agha Hafezi schweigt dazu, denn auch er ist reich und lebt in einem Dorf. »Um es kurz zu machen: Die Familie
versucht
jetzt zu beweisen, dass der Mann ein richtiger Bruder ist. Sie sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es ihnen gelingt, was bedeuten würde, dass sie den größten Teil erben werden.« Er schüttelt den Kopf. »Es ist eine Schande … Der Mensch ist ein gieriges Tier.«
    Augenblicke später

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