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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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sind sie auf den staubigen Straßen von Rasht, und Agha Hafezi hält Sabas Armbeuge durch den Tschador hindurch. Normalerweise findet Saba die lauten Geräusche und durchdringenden Gerüche der Großstadt herrlich überwältigend – Benzin und Auspuffgase, frischer Fisch und gegrilltes Fleisch, Parfüm und Schweiß. Normalerweise genießt sie den Lärm der Straßenverkäufer und Autos; die Farbtupfer, die von kecken Passanten zur Schau getragen werden, hier ein Kopftuch, dort ein knalliger Kragen. Aber nicht heute. Heute ist alles ein mattgelber und staubblauer Dunst, in der Farbe von verblichenem Stoff und billigen Filmen. Saba sieht ihrem Vater an, dass er zornig ist. Sie sieht, dass er sich um ihretwillen betrogen fühlt. Ja, sie hat jetzt mehr Geld als jede andere Frau, die sie kennt – genug, um bis zu ihrem Tod davon leben zu können –, aber der Gesichtsausdruck ihres Vaters weckt in Saba den Wunsch, all die kostbaren Dinge aufzuzählen, die sie bei dieser Transaktion verloren hat. Wieder und wieder versucht sie, sich die Lüge zu verzeihen, die sie im Büro des Mullahs ausgesprochen hat, und bittet Gott, nicht zuzulassen, dass Abbas’ Verwandte einen Rechtsstreit vom Zaun brechen und ihr alles nehmen, was sie gewonnen hat. So viele Geheimnisse könnten zum Verlust ihres Vermögens führen: die nicht vollzogene Ehe, die Umstände von Abbas’ Tod, die Tatsache, dass sie Christin ist, und dieser Mann, der behauptet, Abbas’ richtiger Bruder zu sein …
Was, wenn das stimmt?
    »Wir können trotzdem feiern«, schlägt ihr Vater vor, ehe sie die Bushaltestelle erreichen. »Wie wär’s mit einem Imbiss an einem Kebabstand? Ich kenn einen guten, gar nicht weit von hier.«
    Saba schmunzelt – weil ihr Vater beschlossen hat, nicht über zukünftige Schlachten zu spekulieren. Sie versucht, die schreckliche Erkenntnis zu verdrängen, dass ihre Opfer, die Verletzungen, die sie erlitten hat, gar nichts gewährleisten. Wie ihr Vater will sie nicht an die heutigen Sünden denken. Sie sagt sich, dass im neuen Iran aller Besitz vergänglich ist – das ganze Leben ein Kunststück – und dass sie ihren unsicheren Lohn genießen sollte, solange sie ihn hat. Ein Freibrief für das Mädchen mit den tausend Dschinn, bevor es seinen Weg nach draußen findet.
    »Gute Idee«, sagt sie. »Ich hab Hunger.«
    »Du siehst schon ganz verhungert aus«, sagt ihr Vater im Scherz. Er neckt sie immer, wenn er sie aufmuntern will, in den seltenen Momenten, wenn er nicht ganz auf seine Arbeit oder die Wasserpfeife oder seine verschwundene Frau und Tochter konzentriert ist. Vielleicht ist das ein Neuanfang für Saba und Agha Hafezi, nicht mehr bloß ein unbeholfener Vater und eine unbeholfene Tochter, sondern zwei Gleichgestellte – in ihren Hoffnungen, ihrem Reichtum, ihrer Trauer um alles, was sie verloren haben. »Höchste Zeit, eine fidele, fette Witwe aus dir zu machen.«
    * * *
    Heiress – Erbin (f), weibl. Person, die rechtmäßig den Besitz eines Verstorbenen erhält.
    Hermit – Eremit (m), jd., der allein lebt, ohne Gesellschaft.
    Hermes – griech. Götterbote. Außerdem ein Geschäft mit orangefarbenen Schachteln.
    Am Abend schreibt sie eine neue Liste mit englischen Wörtern und wägt ihre beiden Optionen ab: bei ihrem Vater bleiben oder sich ein Ticket nach Amerika besorgen. Jetzt könnte sie das machen. Sie könnte endlich versuchen, das Flugzeug zu besteigen, das sie verpasst hat, als sie elf war. Die Mittel hat sie, und nach vielen Nachforschungen weiß sie genau, wie sie vorgehen muss. Aber jedes Mal, wenn sie anfängt, die einzelnen Schritte durchzugehen, schweifen ihre Gedanken ab, und sie ertappt sich dabei, wie sie sich mehr und mehr in der Geborgenheit des Dor f lebens einrichtet. Vielleicht wird jetzt alles besser.
    Sie fragt sich, was Mahtab tun würde. Wahrscheinlich würde sie sich für Amerika entscheiden. Wenn ihre Mutter hier wäre, würde Saba ihr die Stapel mit Wörterlisten zeigen, die sie zusammengestellt hat, und fragen, ob ihr Englisch gut genug ist, um dort drüben ein achtbares Leben zu führen.
    Sie arbeitet sich durch Visa- und Passanträge, die Reiseführer ihrer Mutter und ihre Bankauszüge und fragt sich, wie lange das alles wohl noch dauert. Irgendwann bald wird sie ihrem Vater von ihren Plänen erzählen müssen – aber noch nicht. Sie kocht sich einen Lamm-Auberginen-Au f lauf zum Abendessen. Von Schwermut überwältigt und nach einer Abwechslung lechzend, verbringt sie eine Stunde damit,

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