Ein Teelöffel Land und Meer
»Komme bald« heißt.
* * *
Es ist ein Sonntag, als Mahtab die Worte erstmals laut ausspricht.
Ich kann keine Kinder bekommen
– ganz einfach. Aus. Fertig. Frei. Jetzt liegt es an James und seiner Familie, das zu akzeptieren oder offenkundig jede östliche und westliche Vorstellung von Integrität und Anstand über den Haufen zu werfen. Denn wer kann einer Frau Vorwürfe machen, die willig ist, aber nicht in der Lage? Sie hat kein schlechtes Gewissen wegen ihres Verhaltens. Es ist eine Flucht, so wie die Flucht ihrer Mutter aus dem Iran. Sie fühlt sich heldenhaft, rechtschaffen, edel. Vielleicht auch ein bissen weniger ängstlich. Sie atmet ein- oder zweimal tief aus. Es ist die Freiheit, ihre Zwanziger hinter sich zu lassen und wieder vierzehn zu sein. Die Freiheit, einen Beschützer zu haben – nicht selbst einer zu werden. Es fühlt sich gut an. Als James mitfühlend lächelt und ihre Hand nimmt, verspürt sie eine Welle der Erleichterung und Zuneigung.
Jetzt ist sie aus diesem Gespräch entlassen. Sie kann sich wieder darauf konzentrieren, die Ungerechtigkeiten der Welt zu dokumentieren und Baba Harvard auch nach dem Abschluss mit ihrem Talent zu beeindrucken.
Welche Macht sie hat! Das ist das Besondere an Mahtab. Sie bestimmt alles, was ihr widerfährt. Sie will keine Babys, also bekommt sie auch keine, und dadurch gibt sie mir Hoffnung. Ein Vermächtnis kann so vieles sein, nicht bloß ein Kind. Ich werde irgendwann ein Vermächtnis haben, das nichts mit Cheshmeh oder Reza oder Ponneh zu tun hat. Es wird etwas sein, das ausschließlich aus mir selbst kommt. Ein Stück Saba Hafezi, das in der Welt bleibt.
Mahtab ist eine erfahrene Journalistin, daher hat sie natürlich jede Menge Material, um ihre Geschichte zu untermauern. Als sie sich eine Woche zuvor durch Fakten und Zahlen und die Sprache der Krankheit gearbeitet hat, wurde ihr etwas klar: dass sie nämlich egal welche Fiktion nehmen und sie in den Mantel der Wahrscheinlichkeit hüllen kann, indem sie das kollektive Wissen der Welt nutzt. Die Momente auktorialer Macht haben Mahtab schon begeistert, als wir noch klein waren und sie Geschichten über den Sonne-Mond-Mann erfand. Ihre Story ist makellos: Infektion. Narben. Bleibende Schäden und noch mehr Schäden. Sie setzt jetzt ziemlich viel aufs Spiel – Mahtab die Risikofreudige, die Beherrscherin ihres eigenen Schicksals. Mahtab die Träumerin, die Schläferin, die einsame Schwestern im Stich lässt.
»Keine Sorge«, flüstert James. »Dann adoptieren wir eben. Wir werden ein kleines Mädchen adoptieren. Vielleicht aus dem Iran.« Er schneidet ein Stück von seinem eigenen Frühstückscroissant ab und legt es ihr auf den Teller, wie man das für ein trauriges Kind tun würde. Mahtab zupft daran herum und schafft in ihrem Herzen Platz für die Sturzflut der Schuld, die sie von diesem Moment an für den Rest ihres Lebens in sich tragen wird.
Sie versucht, die Mienen ihrer Schwiegereltern zu lesen. Mrs Scarret ist mitfühlend, sucht offensichtlich nach irgendwas Positivem, was sie sagen könnte. Schließlich begnügt sie sich mit einer Unverbindlichkeit. »Es gibt immer Optionen, Liebes, in der heutigen Zeit.«
Mr Scarret starrt auf den Tisch, schiebt den Schinken auf dem Teller mit der Gabel hin und her. Seine Hängebacken sehen grau aus, irgendwie eingefallen und passen so gar nicht zu dem munteren Pastellmuster seines Pullovers. »Kann man das nicht operieren?«, fragt er so laut, dass das Paar am Nebentisch aufblickt. »Ich werde das recherchieren«, haucht er. »Ihr Kinder kriegt jede Hilfe, die ihr braucht.«
Jetzt stürzt Mahtab sich in ihre Arbeit als Reporterin. Sie ist gut, ein Star. Monatelang lebt sie täglich in der bangen Erwartung, dass etwas passieren wird, und eines Tages ist es so weit. Sie hebt den Hörer ab, und am anderen Ende ist Dr. Vernon, ihr Gynäkologe, der sie bittet, in seine Praxis zu kommen. (»Ja, es ist dringend. Ja, heute noch, bitte.«) Als sie die Praxis betritt, die in der Mitte einer Sackgasse mit lauter Privatpraxen in einer vornehmen Gegend liegt, tut sie das mit der ganzen Beklommenheit eines Kindes, das in die Sonderkonferenz von einem Dutzend wütender Schuldirektoren bestellt wurde. Sie setzt sich erst zehn Minuten ins Wartezimmer, ehe sie sich anmeldet. Als sie an der Reihe ist, kommt der Arzt selbst, um sie hereinzubitten. Er ist ein freundlich aussehender Mann Ende dreißig, blond und grauäugig, behände und zierlich in seiner Bügelfaltenhose
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