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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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hassen. Aber trotz ihrer Wut wahrt sie die Beherrschung. Sie weiß, dass sie in einer freien Welt das Recht hat, allein zu entscheiden, ob sie ein Baby will.
    Später stehen sie und Mrs Scarret auf, um abzuräumen. Mahtab geht zurück ins Esszimmer, um die letzten Teller zu holen, und hört zufällig, wie ihr Schwiegervater im Wohnzimmer leise mit James redet: »Nicht bereit?«, sagt er mit whiskeyheiserer Stimme. »Was soll die Warterei? Im Iran hätte sie jetzt schon längst vier Babys auf den Rücken geschnallt.«
    Vielleicht äußert James alle Entrüstung und Wut, die so eine Bemerkung verdient. Vielleicht lässt er nur den Kopf hängen, seufzt und murmelt irgendwas Diplomatisches. Oder vielleicht rafft er auch alle Tapferkeit und allen filmreifen Wagemut auf, den er als verängstigter Collegejunge in einer Bar nicht besaß. Vielleicht geschieht das alles in einem anderen Universum, und in diesem stürmt Mahtab einfach ins Esszimmer, schnappt sich ihre Handtasche und James’ Schlüssel, stürzt aus dem Haus und lässt die dicke hölzerne Haustür der Scarrets offen stehen.
    Die ganze Nacht findet sie keine Ruhe. Sie wird das Bild nicht los, das ihr Schwiegervater heraufbeschworen hat – das Bild von ihr als Dorfmädchen. Hat Baba Harvard gelogen? Vielleicht stimmt es ja, dass verwaiste Kinder niemals in bessere Welten hineinfinden können, dass eine Einwanderin immer so aussehen wird, als gehörte sie zurück ins Dorf, und dass vaterlose Mädchen vaterlos bleiben.
    Sie hält sich an diesen Gedanken fest und dreht und wendet sie behutsam, mütterlich in dem warmen Raum zwischen ihrer Brust und dem Kissen. Und so keimt in jener Nacht etwas mit einem Eigenleben in ihr auf und wächst heran. Kein Baby, aber die erste Ahnung eines gewaltigen Fehltritts, eine Idee, an die sie sich später schlicht als die Große Lüge erinnern wird und die beinahe zwangsläufig ist, sowohl was die Praktikabilität angeht als auch das Potenzial, so vieles auf einen Schlag zu lösen – genau das, was bei so vielen Leuten dazu geführt hat, dass sie Mahtab in den langen Jahren außerhalb des Iran missverstanden haben.
    Als die Nacht fast vorbei ist und der Schlaf noch immer nicht kommt, wenden sich ihre Gedanken ihren Eltern zu. Abgesehen von ein paar vereinzelten Erinnerungen und den vielen Gesprächen, die sie über die Jahre erfunden hat, hat sie keinerlei Anhaltspunkte für Babas Charakter oder seine Überzeugungen mehr. Sie sagt sich, dass Baba sie gegen Mr Scarret mit seiner Baby-Obsession und der Iran-Ignoranz verteidigen würde. Trotz all der Vaterfiguren, die sie im Verlauf ihres Einwandererlebens angehimmelt hat, trotz der väterlichen Schultern, die sie bewundert, und der leblosen Beschützer, die sie erfunden hat, konnte Mr Scarret nie die einsame Tochter in ihr ansprechen, und das will was heißen bei einer jungen Frau, die sehnsüchtig zusah, wenn José den Abwasch machte und Mr Aryanpur Tee trank.
    Sie fragt sich, was ihre Mutter dazu sagen würde, und greift zum Hörer, weil das ein Privileg ist, das Mahtab noch immer hat: Sie kann ihre Mutter anrufen, anstatt sie sich vorstellen zu müssen.
    »Warum so traurig, Mahtab-dschan?«, sagt Maman sanft. »Sei dankbar. Du bist ein Mädchen aus Gilan! Schau dir an, wo du jetzt bist. Du kannst tun und lassen, was du willst, und ein Baby ist das Beste von allem. Ein Baby macht dich unsterblich.« Als Mahtab schweigt, fügt sie hinzu: »Überlass es Gottes Händen. Versuch es. Wenn du nicht fähig bist zu empfangen, ist das deine Antwort.«
    Und das ist er, der Moment, in dem die Idee auftaucht und Gestalt annimmt.
Wenn du nicht fähig bist zu empfangen, ist das deine Antwort
. In diesem vagen Appell an eine höhere Macht findet Mahtab ihre Lösung, in dieser Empfehlung, ausgesprochen von einer Mutter, die an die Macht simpler Antworten glaubt. Jetzt denkt sie sich die Große Lüge aus, aber dafür darfst du sie nicht hassen. Sie tut es nur aus einem überaus iranischen Grund, nämlich um alle zufriedenzustellen und jedem zu geben, was er braucht: ein kühles Schlückchen Joghurt. Sie ist zwar von Baba Harvard ausgebildet worden, aber sie ist noch immer eine wilde Kreatur. Es ist nicht ihre Schuld. Es liegt in ihrem kaspischen Blut.
    »Okay«, sagt Mahtab, ehe sie au f legt. »Hab dich lieb. Du fehlst mir.
Zulbia
.« Sie lachen über diesen alten Witz.
Zulbia
ist nämlich ein zuckersüßes Gebäck und das Wort, das wir als Kleinkinder sagten, wenn wir
zud-bia
meinten, was

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