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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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den königsblauen Minivan der Scarrets den endlosen grauen Beton da draußen durchschneiden.
    James und sein Vater kommen in die Praxis gestürzt. Mr Scarret schüttelt Dr. Vernon die Hand. Durchs Fenster bemerkt Mahtab Mrs Scarret, die im Wagen wartet, mit langen Fingern auf das Armaturenbrett trommelt und sich vermutlich den Lippenstift von den Lippen nagt. Sie hat Mitleid mit ihrer Schwiegermutter, weil sie dieser friedlichen amerikanischen Familie so viel Ärger gebracht hat, einer Familie, die zuvor wahrscheinlich nicht mal wusste, was ein echtes Drama ist.
    »Was ist denn los?«, hört sie ihren Schwiegervater flüstern. Seine Stimme klingt rau und entschuldigend, und sie nimmt es ihm übel, dass er mit dem geplagten Arzt mitfühlt.
    »Tut mir leid, dass ich Sie angerufen habe«, stammelt Dr. Vernon. Er fühlt sich von James’ Vater, einem sehr viel älteren, profilierten Mann, eingeschüchtert. »Sie ist nur … Sie braucht ein wenig Hilfe.« Er senkt die Stimme zum Flüsterton. »Ähm … Sir, was die Sache mit der Unfruchtbarkeit angeht …«
    Doch James’ Vater unterbricht ihn. Er legt eine Hand auf den Unterarm des Arztes und bringt ihn wie einen Befehlsempfänger zum Schweigen. »Wir wissen Bescheid«, sagt er traurig, und Mahtab wird klar, dass James ihre Recherchen gefunden haben muss. Vielleicht hat sein Vater auch selbst welche betrieben, das hatte er ja angekündigt, als sie ihm die Große Lüge auftischte. Er scherzt unbeholfen: »Junge Leute und Forschungsbibliotheken, das ist, als würde man einem Affen eine Pistole in die Hand drücken.«
    Mahtab schaltet den Verstand ab, richtet ihre Aufmerksamkeit auf die nette Empfangssekretärin, während James und sein Vater mit Dr. Vernon über sie reden. Sie registriert, dass James ihren Blick meidet, und sie versucht, die drei für ihr leises Getuschel zu hassen, versucht, sich vorzustellen, dass sie Turbane tragen und grausame Urteile fällen, aber vergeblich.
    Dann, als sie gerade ihren Kopf auf die Schulter der Empfangssekretärin gelegt hat, kommt Mr Scarret zu ihr und kniet sich neben sie. Die Art, wie er es tut, dass er sich hinhockt, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, wie Väter das mit ihren Kindern am ersten Schultag machen – entlockt Mahtab erneut Tränen. Unter den salzigen Tropfen, die über ihre Lippen rinnen, fühlt sich die Haut dünn und rissig an, wie Reispapier oder getrockneter Seetang. Sie will »Es tut mir leid« sagen, doch Mr Scarret schüttelt den Kopf. Er legt einen Arm um ihre Schultern und hilft ihr auf. Als sie erneut ansetzt, sagt er mit müder Stimme: »Ist schon gut, Schätzchen.« Im Hintergrund singt Otis Redding einen Song, den er auch auf ihrer Hochzeit sang, und Mahtab geht im Gleichschritt mit ihrem Schwiegervater und denkt, was für eine seltsame Art zu tanzen.
    Aber es tut gut, die letzte und schlimmste ihrer Einwanderersorgen loszulassen, die nagende Furcht, dass man, wenn man in ein neues Land geht, immer einsam bleiben wird.
    Nein, Schluss mit der Angst davor, eine Außenseiterin zu sein, eine Versagerin oder arm oder unbedeutend. Ihr Schwiegervater sagt: »Ist doch gar nicht so schlimm, oder?«, und sie schüttelt den Kopf, ohne Angst vor dem Alleinsein. Auch ich fürchte mich nicht mehr vor der Einsamkeit in fremden Ländern. Wie schön, denkt Mahtab, die Haut einer Einwanderin abzustreifen. Etwas Falsches zu tun und dann verziehen zu bekommen wie eine richtige Tochter, in ein neues Land mit seinen eigenen Vätern aus Fleisch und Blut aufgenommen zu werden. Und all die Momente zu erleben, die ihr bisher entgangen sind.

Pilgerreise ans Meer
    Khanom Basir
    D as ganze Dorf kennt die Geschichte – die wahre Geschichte –, obwohl keiner darüber spricht, so sind wir nun mal. Hübsche Lügen sind uns lieber als hässliche Wahrheiten. Aber jedes Mal, wenn Agha Hafezi seufzt, erinnern wir uns daran, und jedes Mal, wenn Saba Mahtab erwähnt, lassen wir sie in Gedanken Revue passieren.
    1981, als die Mädchen elf waren, fuhr die Familie für eine Woche in ein Strandhaus am Kaspischen Meer. Es war nur eine kurze Autofahrt von Cheshmeh entfernt, aber in jenen Tagen wollte Agha Hafezi nicht weiter fort. »Wenn ihr so tut, als wäre es eine weite Fahrt«, sagte er zu den Mädchen, »dann fühlt es sich auch so an. Stellt euch vor, es wäre eine Pilgerreise, wie in euren Geschichten.«
    »Eine Pilgerreise nach Mekka?«, fragte Saba und wischte sich Sommertau vom Gesicht.
    »Nein«, zischte Bahareh, weil sie es
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