Ein Teelöffel Land und Meer
und dem weißen Kittel.
»Mrs Scarret«, beginnt er, ohne ihr einen Platz anzubieten oder sie zu bitten, sich frei zu machen oder Formulare auszufüllen. »Die Angelegenheit ist ein wenig delikat.«
»Stimmt was nicht?« Ihre kaum hörbare Stimme scheint seinen Verdacht zu bestätigen.
»Wissen Sie … meine Frau ist im Frauenklub Soundso … Kennen Sie den?«
»Ja«, flüstert sie wieder. »Meine Schwiegermutter ist Vorsitzende des –«
Dr. Vernon unterbricht mit einem dreifachen kräftigen Nicken. »Meine Frau ist ihr dort begegnet. Und sie sind ins Gespräch gekommen und … Ich möchte nicht aufdringlich sein, Mrs Scarret, aber ist alles in Ordnung mit Ihnen? Wieso haben Sie Ihrer Familie erzählt, Sie könnten keine Kinder bekommen?«
Mahtab atmet aus, weil Dr. Vernons Stimme nicht so missbilligend und schroff klingt, wie sie erwartet hat. »Ich …«, beginnt sie, ohne zu merken, dass sie angefangen hat zu weinen und sich das Journalistinnen-Make-up ruiniert.
»Es geht mich ja wirklich nichts an«, räumt Dr. Vernon ein. »Und ich würde auch nicht weiter nachfragen – übrigens, als Katie mir erzählte, wie leid es ihr für Sie tut, hab ich ihr nicht gesagt, dass es nicht stimmt, ärztliche Schweigepflicht –, aber ich mache mir Sorgen, Mrs Scarret, denn wenn Sie so etwas gesagt haben … nun ja, Sie wissen doch wohl, dass es nicht mal eine gute Erklärung ist, oder? Ich meine, abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass Sie völlig gesund sind, führt die von Ihnen angegebene Erkrankung nicht dauerhaft zur Unfruchtbarkeit. Das können Sie in jeder beliebigen medizinischen Fachzeitschrift nachlesen.«
»Ich weiß«, sagt Mahtab fast lautlos.
Der Arzt führt Mahtab zu einem Stuhl, reicht ihr ein Kleenex. Er setzt sich in einen Drehsessel und rattert den Rest seiner vorbereiteten Rede herunter. »Mrs Scarret. May. Darf ich May sagen? Sie haben doch nicht etwa irgendwelche drastischen Maßnahmen ergriffen? Meinen Unterlagen zufolge nehmen Sie keine Verhütungsmittel, weil Sie ja gesagt haben, Sie würden versuchen, eine Familie zu gründen. Deshalb muss ich Sie das fragen. Das ist meine Pflicht.«
»Was denken Sie denn, was ich gemacht habe?«
Dr. Vernon zuckt die Achseln. »Pillen, die Sie nicht von mir verschrieben bekommen haben, irgendwelche Hausmittelchen und so weiter. Wir leben in den Neunzigern, aber Sie würden nicht glauben, was noch alles praktiziert wird.« Er hüstelt und fügt hinzu: »Vor allem natürlich von Teenagern …« Er räuspert sich, gibt Mahtab Gelegenheit, ihn aus der Bredouille zu befreien.
»Danke, Dr. Vernon«, sagt sie und steht auf, »aber Sie haben keinen Grund zur Besorgnis.«
Der Eingangsbereich ist leer. Der Arzt verabschiedet sie mit einem beidhändigen Händedruck und dem Satz »Alles Gute, und bitte melden Sie sich, falls Sie uns brauchen«, ehe er wieder in seinem Besprechungszimmer verschwindet. Wer ist »uns«?, fragt sie sich, während sie sich umschaut. Sie beschließt, sich kurz zu setzen, nur um sich ein wenig zu sammeln. Ihre Hände zittern. Sie glaubt nicht, dass sie in der Lage ist zu fahren. Draußen wird der Himmel grau, und die Sackgasse wirkt trostlos und gewöhnlich. Auf den üblichen Holztischen, die auf hässlichem Teppichboden stehen, sind Frauenzeitschriften aufgefächert. Auf einmal beginnt Mahtab, laut in ihren Ärmel zu schluchzen. Sie weiß, das ist ungehörig und lässt sie jämmerlich und schwach wirken, aber sie kann einfach nichts dagegen tun.
Sie nimmt gar nicht wahr, dass die Empfangssekretärin herbeieilt und ihr die Hand hält, dass Dr. Vernon wieder herausgestürzt kommt und zum Telefon greift. Auch sein lahmer Versuch, ihre Stimmung zu bessern, indem er die Klassik- CD gegen Jazz austauscht, die einzige andere Option in der Praxis, bleibt unbemerkt. Sie sieht nur das nass verschwommene Braun und Rosa und Weiß, wo zuvor die Tische und die Zeitschriften und der Teppichboden waren. Sie erkennt das Gefühl wieder, nicht zu wissen, was man machen soll, das Gefühl, dass alles aus den Fugen gerät, dass ein ganzer Wohnwagen sich überschlägt und ihr den Brustkorb zerquetscht; ihr kommt der vage, einsame Gedanke, dass Cameron, wenn sie ihn jetzt anrufen würde, all ihre Fehler mit einer geistreichen Bemerkung über dichterische Freiheit und Wahnsinn wegwischen würde.
Wo ist Cameron? Wo ist mein Freund? Noch so ein Außenseiter, der die Welt aus der Distanz betrachtet?
Und dann, nur Minuten später, sieht sie
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