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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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der einzige Raum, in dem ihr Vater Leute aus dem Dorf bewirtet. Das westlich ausgestattete Esszimmer mit den Nain-Teppichen und geschnitzten Stühlen bleibt meist ungenutzt, außer wenn Sabas Hauslehrer aus Rasht kommen. Sie lernt gerne dort, wegen des großen Fensters und der Fotos von ihrer Mutter und Mahtab. In den Sommern, als sie noch klein waren, wenn die Teppiche gelüftet und auf Schimmel überprüft wurden, legten sie und Mahtab sich gern bäuchlings in Unterwäsche auf den Fliesenboden im westlichen Zimmer, um sich abzukühlen. Jetzt nimmt sie im persischen Wohnzimmer Platz, dicht hinter den drei Khanom-Hexen und Ponnehs Mutter, Khanom Alborz, die oft nur widerwillig an solchen Feiern teilnimmt. Saba denkt an die Worte ihres Vaters. Wissen sie alle über Reza Bescheid? Machen sie sich über sie lustig? Ihr ist ganz schwindelig.
    Auf Englisch heißt das
vertigo
, denkt sie.
    Mit Rücksicht auf die Geistlichen haben die Frauen sich widerwillig Haus-Tschadors umgehängt – weiße mit großen lila Blüten drauf oder gepunktete mit Reihen aus rosa Rosen und Schnörkeln. Diese Tschadors liegen stets neben der Tür für Gäste bereit, gleich neben dem Berg Schuhe, die alle beim Betreten des Hauses ausziehen. Sabas Vater will damit vor den Mullahs seine Frömmigkeit unter Beweis stellen; aber in Teheran und Umgebung, wo Frauen sich üblicherweise schwarz umhüllen, ist es eine Willkommensgeste, Besucherinnen fröhliche Haus-Tschadors anzubieten.
Bitte wechselt eure Tschadors
, sagt man,
macht es euch bequem, bleibt ein Weilchen
. Es ist eine Einladung, das krähenhafte Äußere abzulegen, die Farben zu tragen, die man mag, sich an dem tschilpenden Geplauder persischer Mütter zu beteiligen, das sich in allen Gegenden des Landes gleicht.
    Warum? Wie? Was?
    Chera? Chetor? Chee?
    Tschilp. Tschilp. Tschilp.
    Saba weiß, dass iranische Frauen wegen der schwarzen Tschadors, die in den Städten oder bei feierlichen Anlässen getragen werden, jetzt gern scherzhaft als Krähen bezeichnet werden, aber wenn ihr Vater die ersten Züge an der Haschischpfeife genommen hat und besonders nachdenklich ist, tadelt er sie dafür. Er sagt, persische Frauen sind eher wie die Seeschwalben des Kaspischen Meeres, die über dem trüben Wasser schweben und gleiten, und überhaupt nicht wie Krähen. Lass dich nicht täuschen, sagt er. Sie sind Seeschwalben im Krähengewand. Du musst wissen, die Kaspische Seeschwalbe war zuerst hier, aber jetzt gibt es sie auf der ganzen Welt, auf jedem Kontinent. Sie ist ein wilder Wasservogel mit tiefrotem Schnabel, einem spitzen, blutroten Mund. Der Körper der Seeschwalbe ist weiß, aber ihr Kopf ist mit einer schwarzen Haube bedeckt. Sie lauert mit ihren kohlschwarzen Augen und greift unablässig an, verletzt jeden, der ihr Nest gefährdet. »Genau wie deine Mutter«, sagt er und atmet den wohltuenden Rauch aus. »Im Innern der Seeschwalbe lebt ein wilder und wütender Geist.«
    Was für eine wundervolle Beschreibung, die selbst ihre Wut in Poesie verwandelt.
    Rund um den
sofreh
ruhen drei Männer auf dicken bunten Kissenstapeln. Sie tragen das geistliche Gewand der Mullahs, und jeder hat einen Turban auf dem Kopf, wie eine Krone aus weißem Band. Saba hasst Mullah Ali, den ältesten von ihnen mit dem weißen Bart, der nach Meinung ihres Vaters für die Sicherheit der Familie gesorgt hat, trotz des allzu offensichtlichen Christentums und des unverhohlenen Widerstands ihrer Mutter. Sie hasst seine Gewänder und die Reden, die er beim Essen schwingt, seine ehrerbietige Haltung gegenüber alten Frauen und die Tatsache, dass er ihren einfältigen Cousin Kasem unter seine Fittiche genommen hat. Vor allem hasst sie ihn, weil er ein Mullah ist, ein Symbol des düsteren neuen Iran. Das ständige Auftauchen eines Mullahs im Haus ist im stillen, bescheidenen Norden recht seltsam. Daher ist seine Anwesenheit, auch wenn sie noch so freundlich scheint, eine Art Erpressung, ein Almosen für all die Geheimnisse, die er für ihre Eltern hütet. Sie wüsste gern, wie ihr Vater derlei Themen erstmals bei Mullah Ali zur Sprache brachte, wie er die feinfühligen Worte fand. Sie hat sich angewöhnt, jede Freundlichkeit, die der Mann ihr zeigt, entweder zurückzuweisen oder zu ignorieren.
    Gerade erzählt er von seiner kürzlich überstandenen Zahnbehandlung. »Ich meine es todernst«, sagt er, während er auf einem Stück Wassermelone kaut. »Der Zahn, den er mir gezogen hat, war so lang, dass mein linker Arm geschrumpft

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