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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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gehängt.
    Vultures. Vipers. Vermin.
    Geier. Giftschlangen. Geschmeiß.
    Reza bemerkt ihren Gesichtsausdruck und schüttelt beruhigend den Kopf. »Lassen Sie sie in Ruhe, Agha-dschan«, sagt er zu dem jungen Mullah. »Kluge Mädchen sollten studieren.« Zuerst ist Saba sich nicht sicher, was sie von diesem Kommentar halten soll, doch später befindet sie, dass er ihr gefällt.
    Quer über den
sofreh
hinweg behält Khanom Basir ihren Sohn im Auge. Sie knabbert an einem Blatt Minze, während Reza sich auf ein Kissen niederlässt. Er nimmt die Tasse Tee, die Saba ihm anbietet, rührt zwei Stücke Zucker hinein und klemmt sich ein drittes zwischen die Zähne, gießt die heiße Flüssigkeit darüber. Saba schiebt einen Teller mit
ghotab
-Teigtaschen zu ihm hin. Das ist noch so eine Eigenart von ihm, die sie sich eingeprägt hat: Reza hat eine Vorliebe für Süßes. Er hasst frühes Aufstehen, und er liebt die Beatles.
    »Saba, kannst du mal einen Moment kommen?«, ruft Khanom Basir mit einem zuckersüßen Lächeln im Gesicht. »Saba-dschan, ich sage das stellvertretend für deine arme Mutter, die nicht hier ist, um es dir selbst zu sagen. Aber diesen Rock solltest du nicht im Beisein von Männern tragen.« Sie nimmt Sabas Hand und zieht sie zu sich, als wäre sie eine Vertraute, während Saba gegen das Bedürfnis ankämpft, von ihr anerkannt zu werden. »Wir können deine Knöchel sehen. Geh und bring das in Ordnung. Nimm einen Tschador aus dem Stapel, liebes Kind.«
    »Aber ich hab mein Kopftuch.« Saba zieht das Tuch zurecht und streicht ihren Rock glatt. Sie will sich nicht verhüllen wie eine alte Frau. Sie schaut zu ihrem Freund Reza hinüber, den sie schon ihr ganzes Leben kennt, und wünschte, er würde diese peinlichen Situationen mitbekommen und ihr gegen seine Mutter beistehen.
    Es klopft an der Tür. »Reza, geh aufmachen«, befiehlt Khanom Basir. »Meinst du, es ist Ponneh? Das ist mal ein Mädchen, das es nicht nötig hat, Haut zu zeigen, um schön zu sein. Macht kein Mode-
bazi
. Macht ihrer Mutter keinen Kummer.« Khanom Basir seufzt in Gedanken an Ponnehs unermessliche Tugenden, wartet auf eine Reaktion ihres Sohnes und murmelt: »Wenn sie nur heiraten dürfte.«
    Reza steht auf und folgt Saba aus dem Wohnzimmer und ein paar Stufen hinunter. Einer der Mullahs ruft ihm nach: »Pass auf, stoß dir nicht den Kopf an der Decke.«
    Im Flur wagt Saba es nicht, sich zu ihm umzudrehen, wagt es nicht zu lächeln. Sie fragt sich, ob auch er weiß, was, wie ihr Vater behauptet, alle wissen. Sie geht den Flur entlang, spürt ihn im Rücken und schafft es nicht, sich umzudrehen, bis er ihre Hand nimmt.
    »Lauf nicht weg, Saba Khanom«, sagt er beinahe flüsternd in seinem schönen ländlichen Dialekt. Er verschränkt zwei Finger mit zwei von ihren, und sie spürt, wie ihr plötzlich Hitze von der Brust unter der Bluse nach oben kriecht, dann weiter über die Schultern bis zu den Schläfen, die Stoffschichten wegbrennt und sie nackt macht. Sie versucht, an seine Unzulänglichkeiten zu denken, seine bäuerliche Sprache und die unbeholfene Art, mit der er sie als Frau Saba anspricht. Seine Stimme ist übertrieben weich und dunkel, ein brünstiger Achtzehnjähriger, der sich in westlichen Fernsehserien, die er nur halb versteht, abgeguckt hat, wie man Frauen den Hof macht. Saba weiß das und will ihn nur noch mehr – wegen dieses albernen Versuchs, sie zu berühren, und wegen seiner warmen, verschwitzten Hand und wegen der Art, wie er seine Größe kaschieren will, indem er sich ein klein wenig bückt.
    Sie stehen jetzt nur wenige Schritte von der Tür entfernt, und Saba überlegt, was sie sagen soll. Doch ehe sie antworten kann, hört sie ein dezentes weibliches Räuspern und bemerkt Ponneh, die inzwischen hereingekommen ist und sie beide betrachtet. Ihr herzförmiges Gesicht wird umrahmt von einem babyblauen Tuch, das sie wie eine Blume im Nacken verknotet hat, und ihre Mandelaugen blicken gebannt auf die verschränkten Finger ihrer Freunde.
    * * *
    Reza lässt prompt Sabas Hand los und zuckt die Achseln, als wüsste er, was Ponneh denkt. Nach einem Moment stammelt Saba: »Gehen wir rein?«
    »Na, du bist ja eine tolle Gastgeberin«, sagt Ponneh, als sie ihre Überjacke an einen Haken neben der Tür hängt. »Ich musste mich selbst reinlassen. Oh nein, nein. Schlachtet bloß nicht extra ein Schaf für meine Wenigkeit.«
    Saba tut Ponnehs Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Mach jetzt bitte kein

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