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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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seine Wangen zittern lassen? Reue? Saba hat ihn nie danach gefragt, aber sie nimmt an, dass ihr Vater Albträume hat, dass er ihr nicht sagt, wohin ihre Mutter gegangen ist, weil er dabei war und nichts verhindern konnte. Es muss entmutigend sein, eine Karawane zu leiten, die sich nach und nach au f löst. An welchem Punkt gibst du einfach die Zügel aus der Hand und lässt dich fallen? Nach wem rufst du, dass er kommt, um dich zu retten?
    Sie berührt ihre Lippen mit zwei unruhigen Fingern. »Es tut mir leid«, sagt er. »Ich wollte damit nicht sagen –« Saba zuckt die Achseln. Agha Hafezi seufzt laut. »Ich wollte sagen, dass das Leben leichter gewesen wäre, wenn ich ein besserer Vater hätte sein können, sodass ihr beide hier sein könntet … aber jeder weiß, dass Zwillinge gleich sind. Du und Mahtab, Gott bewahre sie, seid für mich genau gleich.«
    Jeder weiß, dass Zwillinge gleich sind
. Das ist die Philosophie ihrer Eltern. Das Schicksal wird von den Gesetzen des Blutes und der DNA bestimmt, und zwei genetisch identische Mädchen werden stets das gleiche Leben leben, sie werden ihren Eltern stets die gleiche Freude bereiten – ob sie zu Hause sind oder weit weg.
    »Baba«, sagt sie und räuspert sich, »bitte sag mir, wo Maman hin ist.«
    Ihr Vater reibt sich die Augenwinkel, eine Masche, um ihrem Blick auszuweichen. Schließlich sieht er sie mit einem schwachen Lächeln an. »Als du klein warst, hat Khanom Basir mir alles über dich erzählt.« Er lacht, und Saba fragt sich, was das mit ihrer Mutter zu tun haben soll. »Sie hat mir erzählt, dass du einen Brief von Mahtab erfunden hast, um deine Freunde zu unterhalten. Sie hat gesagt, das wäre deine Art der Bewältigung.«
    Worauf will er hinaus? Sie fragt sich, ob ihr Vater an der Wasserpfeife war. Er berührt ihre Schulter mit einer massigen Hand. »Ich mag die Art, wie du mit Unmöglichem umgehst«, sagt er, »wie du dir eine vollkommene Welt schaffst und jedem sagst,
so ist das
 … Das macht das Leben einfacher … Deshalb lass uns böse Erinnerungen löschen und einfach sagen, dass deine Mutter in Amerika ist … bloß bis ich selbst einiges genauer weiß.«
    Ein Teil von ihr will nachhaken, will erneut beteuern, dass sie
gesehen
hat, wie ihre Mutter und ihre Schwester in das Flugzeug gestiegen sind, und dass er aufhören kann, vor dunkleren und rätselhafteren Möglichkeiten wegzulaufen. Sie will ihren Vater zwingen, es ihr endlich zu sagen.
Was ist passiert? Warum kann ich nicht mit ihr telefonieren?
Doch ihr Vater sieht aus wie ein verlorenes Kind, und auch er hat keine Mutter oder Frau oder Schwester mehr. Sie muss an die Zeit nach der Trennung denken, als er sechzehn Stunden täglich in seinem Büro am Telefon verbrachte. Keine Mahlzeiten, kein Besuch, bloß unentwegt Anrufe bei Behörden und Bürokraten und Mullahs – sogar einige geflüsterte Gespräche mit den Freundinnen ihrer Mutter und Angehörigen der christlichen Gemeinde im Untergrund, Menschen, in denen Saba die wahren Freunde ihres Vaters erkannte, obwohl sie nie zum Abendessen ins Haus kamen, wie die Mullahs das so häufig tun. Sie beschworen ihren Vater leise, dass alles gut werden würde, dass er sich seinen Glauben bewahren und Jesus im Gebet bitten sollte, ihm seine Zweifel zu nehmen. Hatte er seinen Glauben bewahrt? Vielleicht … aber er bewahrte auch einen Koffer unter seinem Schreibtisch auf – eine Zahnbürste, eine Flasche Wasser, einen Pyjama – für den Fall, dass sein Gott ihn im Stich ließ und er ohne Vorwarnung verhaftet wurde. Saba betet manchmal zu Jesus. Obwohl sie unsicher ist, genügt ihr, dass ihre Mutter gläubig war – dass es sie stolz machen würde. Sie beschließt, dass ihr Vater fürs Erste genug durchgemacht hat. Er gibt sich solche Mühe, sein Lächeln nicht zu verlieren. Sie sollte nett zu ihm sein, sich mit ihm verschwören. Obwohl er sie nur bei Laune halten will, wird sie großzügig sein und sich auf seinen Vorschlag einlassen. »Okay«, sagt sie, »das werden wir ihnen sagen.«
    »Nein«, sagt er, und seine Miene wird plötzlich verhalten. »Das sind alles private Angelegenheiten.« Und damit ist der Moment dahin, ebenso wie Sabas Chance, gut zu ihrem Vater zu sein –
den Versuch hätte ich mir sparen können
, denkt sie.
    * * *
    Saba geht leise in den hinteren Teil des Wohnzimmers, das im persischen Stil eingerichtet ist: alte Teppiche, Binsenmatten und Kissen rings um ein Bodentuch, einen
sofreh
, statt Tisch und Stühlen. Es ist

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