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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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ist. Seht ihr? Seht ihr, wie ungleich sie sind?« Er legt beide Arme an den Körper, und die Männer lachen schallend los. Eine der Frauen versucht, ihn zu übertrumpfen. »Ich hatte mal einen Zahn, der bis ganz tief in den Kiefer reichte. Das Loch benutze ich heute noch, um meinen Schmuck vor Dieben zu verstecken.«
    Sabas Vater sitzt still in einer Ecke. Er isst nicht, hängt nur seinen Gedanken nach, ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Denkt er an seine Frau und seine andere Tochter? Kennt er die Wahrheit über sie? Er muss sie kennen. Wo immer sie sein mag, Maman würde seine Hilfe brauchen. Man sagt, Kinder haben ein intuitives Gespür dafür, was wahr ist, und Saba hat immer eine gewisse Wahrheit in dem schattenhaften Bild von Mutter und Tochter im Flughafen gespürt, wie sie zu dem Flugzeug nach Amerika eilten. Aber einmal hat sie von einem gesichtslosen
pasdar
geträumt, der ihr ein Messer an die Kehle hielt und drohte, sie zu töten, wenn sie ihm nicht verriet, wo Mahtab ist. Sie erwachte mit einem schmerzhaften Ziehen im Bauch und den Worten
Grund des Meeres
frisch und salzig auf den Lippen. Oder waren die Worte
jenseits des Meeres
?
    Ihr Vater lehnt sich zurück und zeigt weiterhin kein Bedürfnis, die Gäste zu unterhalten. Diese Leute kommen alle paar Tage unangekündigt ins Haus, kochen für sich selbst und für ihn, erwarten nichts von der Hö f lichkeit und munteren Gastfreundschaft, die sie beanspruchen würden, wenn er eine Ehefrau hätte, bloß die Rohmaterialien und einen Ort, an dem sie ihre Gesprächskunst üben können. Die meisten von ihnen wurden noch nie in ein anderes Haus wie das der Hafezis eingeladen. Saba vermutet, dass sie insgeheim Mitleid für ihren Vater empfinden und sich gern einreden, dass sie ein gutes Werk tun – dass diese Feste gut für
seine
geistige Verfassung sind.
    »Agha Hafezi.« Mullah Ali spricht ihren Vater an, schaut aber zu Saba hinüber, wie ein gewiefter Vater ein kleines Kind ansieht, das mit einem Trick dazu gebracht werden soll, brav zu sein. »Was würde die Dame des Hauses wohl davon halten, uns etwas frisches Brot und Joghurt zu bringen?« Er fragt das so bedeutungsvoll, als würde er erwarten, dass sie sich durch ihre Rolle geehrt fühlt. Ein besseres, klügeres Mädchen würde sofort aufspringen. Aber sie überhört ihn einfach und lauscht weiter dem Gespräch ihrer Adoptivmütter. Ihr Vater seufzt laut und blickt sie verärgert an. Sie kann förmlich hören, wie er denkt:
May Ziade
.
    Der Mullah räuspert sich peinlich berührt. »Oh, meinten Sie
mich
, Agha?«, sagt sie trocken, und ihr Vater erbleicht. Mullah Ali lacht nur und droht ihr mit dem Finger. Zum Glück hat er von Agha Hafezis Pfeife geraucht. Er trinkt einen Schluck Tee, der, wie die anderen Mullahs schwören werden, der einzige Genuss des Abends war. Kein Alkohol, keine derben Geschichten, keine Frauen im Raum, junge oder alte. Mullah Ali lehnt sich zur Seite und nimmt einen Zug aus der Wasserpfeife, inhaliert Opium aus Khanom Omidis Geheimvorrat. Saba weiß, wo der Rest versteckt ist, winzige braune Kügelchen auf dem Grund eines Glases mit einer Mischung aus Kurkuma und Kreuzkümmel. Warum macht sie sich überhaupt die Mühe, ihr Laster zu verbergen? Opium ist billig, und sie ist eine harmlose alte Frau.
    »Das ist doch nur leichter Tabak, oder?«, will der Mullah von Agha Hafezi wissen, und der nickt zweimal.
    Praktisch, denkt Saba, dass Opium und Haschisch – die die Massen beruhigen – in diesem neuen, frommen Iran so leicht erhältlich sind, wohingegen Alkohol – der aufsässig und unberechenbar macht – verschämt und heimlich konsumiert werden muss, nur bei schwer zu findenden, vertrauenswürdigen Quellen zu kaufen ist oder in Badewannen gebraut wird, wo ein Fehler bei der Dosierung töten kann (und getötet hat). Für ein paar Tropfen nach dem Abendessen muss Agha Hafezi dunkle Gassen aufsuchen und billigen Fusel in unauffälligen Behältern in seine Vorratskammer schmuggeln. Seine Wasserpfeife dagegen steht immer für alle sichtbar in einer Ecke. Dennoch, wenn er nicht diskret ist, könnte ihn auch diese Sucht ins Gefängnis bringen oder sein Todesurteil sein. Saba erinnert sich an die Zeit kurz nach der Revolution, als ihr Vater noch Freunde und Geschäftspartner zu sich einlud, bevor sein Vertrauen in Mullah Ali fest zementiert war. Damals war er ein heiterer Mann, der hoffte, seinen vorrevolutionären Lebensstil beibehalten zu können. Am Telefon bediente er sich eines

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