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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Spiegel. Rötlich orangefarbene Strähnen sind unter dem Kopftuch hervorgerutscht, das ihr locker-lässig bis auf die Schultern hängt. Vergangenen Monat hat sie sich von einer siebzigjährigen Frau, die heimlich in ihrem Wohnzimmer einen Frisiersalon betreibt, die Haare färben lassen – ein kostspieliger Fehler.
    Jemand ruft aus dem Wohnzimmer: »Saba. Saba, komm doch zu uns, Kind.«
    Sie nimmt rasch einen Lappen und wischt sich das Make-up aus dem Gesicht, während sie angestrengt lauscht, um die Männerstimmen zu erkennen. Ist Reza dabei? Und vielleicht auch Ponneh? Sie versucht mitzubekommen, ob ihre Freunde schon einen Vorwand konstruieren, damit sie sich bald verdrücken können – aber sie kann sie in dem Stimmengewirr nicht ausmachen. Sie legt sich das Kopftuch um den Hals: Wenn sie ihr Haar nicht unbedeckt lassen kann, trägt sie es gern in traditioneller Gilaki-Art, bei der das Tuch um den Hals geschlungen und hinten festgebunden wird, achtet aber stets darauf, dass ein Fingerbreit vom Mittelscheitel zu sehen ist. Ehe sie das Zimmer verlässt, betrachtet sie ihren Stapel englischer Schulbücher, die einzigen westlichen Bücher, die sie ohne Furcht vor Bestrafung, Verhaftung oder zumindest einer langen väterlichen Schelte offen herumliegen lassen kann. Ganz oben liegt ein aufgeschlagenes Biologiebuch, das auf einer Seite das Foto einer Blume in einem wunderschönen Orangeton zeigt. Die Bildunterschrift lautet: »California Panther Lily«.
    Vibrant
, denkt Saba,
lebendig
, und geht im Kopf noch einmal die englischen Wörter mit
v
am Anfang durch, die sie heute gelernt hat. Sie murmelt sie einige Male vor sich hin, während sie einen letzten prüfenden Blick durch ihr Zimmer schweifen lässt.
Verdant
.
Unreif
. Wenn ihre Mutter hier wäre, würde Saba das Wort
verdant
in einem Satz verwenden. Falls Mahtab wirklich nach Amerika gegangen ist, wie viele tolle englische Wörter kennt sie dann wohl inzwischen? Wahrscheinlich alle, die es gibt – jedenfalls mehr, als man aus geschmuggelten Romanen und Illustrierten oder aus einem zerfledderten Wörterbuch für Kinder oder sogar von den besten iranischen Hauslehrern lernen kann. Aber Saba ist jetzt achtzehn, und sie kennt die Erwachsenenwelt. Sie redet nicht so über Mahtab, weil Mädchen, die angeblich tot sind, nicht Englisch lernen können. Dennoch, das Geheimnis, das das Verschwinden ihrer Mutter umgibt, hält Mahtab am Leben – eines Tages wird Saba die ganze Wahrheit erfahren.
    * * *
    Im Flur prallt sie fast mit ihrem Vater zusammen, der beim Gehen oft über vier verschiedene Dinge gleichzeitig nachdenkt. Er ist nicht sonderlich dick, aber er hat etwas Robustes, Imposantes an sich, das Saba an einen Ringer erinnert. Über seine Wangen ziehen sich dunkle Furchen, und seine Hängebacken sind grau gesprenkelt. Selbst wenn er lächelt, blicken seine wässrigen Augen traurig und verleihen ihm eine gütige Ausstrahlung. Er redet nicht viel, äußert seine Gedanken und Erklärungen gern kurz und bündig. Aber er hält an seinen Meinungen fest, und eine davon lautet, dass er lieber ein sicheres Leben führt, als eben diese Meinungen kundzutun. Er mag schöne Dinge, was, wie er oft zu Saba sagt, der Grund dafür ist, dass er eine studierte Frau geheiratet hat und seine Töchter schon Englisch lernten, ehe sie Fahrrad fahren konnten.
    »Saba-dschan, komm und hilf ein bisschen. Mullah Ali hat ein paar Leute mitgebracht …« Er kaut irgendwas, und sein grauer Schnurrbart hüpft und wischt über die schlaffen Wangen. Saba riecht Honig. »Ich hab die Bänder gesehen«, fügt er hinzu. »Eine so große Sammlung ist gefährlich. Was, wenn dein Cousin Kasem die sieht?«
    »Kommt der etwa? Der darf nicht in mein Zimmer!« Sie schaudert. »Ich kann ihn nicht leiden … dauernd sieht er mich so komisch an. Und er hängt förmlich an Mullah Alis Lippen.« Sie streckt angewidert die Zunge raus.
    Ihr Vater warnt sie mit einem Blick. »Er ist der Sohn meiner Schwester. Sei nett zu ihm. Und benimm dich Mullah Ali gegenüber respektvoll. Er ist ein anständiger Mann, ein hilfsbereiter Mann. Ich will keinen Ärger.«
    Saba wendet sich heftig ab, murmelt: »Alle Mullahs sind Schweine, auch die anständigen.«
    »Pass auf, was du sagst«, flüstert er. Dann lenkt er ein. »Ja, ich weiß … aber, bitte, Saba, du warst doch sonst immer so vernünftig. Führ dich nicht auf, als wärst du May Ziade.« Sein Versuch, sie zu beschwichtigen, scheitert jäh, als er die unbekannte

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