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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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drängt Reza. »Wir sind beide achtzehn. Wir sind alt genug.«
    »Du weißt doch, ich kann nicht«, flüstert Ponneh zurück. »Du kennst Mamans Regel.«
    »Ich hab noch von niemandem sonst gehört, der so eine Regel hat«, sagt er.
    »Aber sie hat sie. Ich hab drei ältere Schwestern, und keine ist verheiratet. So ist das nun mal.«
    »Und die kranke? Die kann kaum aufstehen. Wir wissen doch beide, dass sie niemals –«
    »Das ist herzlos«, zischt sie. »Du klingst schon wie Mustafa mit seinem albernen
Leiden

    Sie tuscheln weiter. Er flüstert ihr irgendwas ins Ohr. Er versucht, sie zu trösten, zu überzeugen. Niemand achtet auf sie, und auch Saba beschließt, nicht mehr hinzuhören. Reza ist bloß ein Mann, und Männer sind schwach. Wer weiß, was er sagen würde, wenn sie diejenige wäre, die jetzt neben ihm säße. Saba weiß, dass Reza verunsichert ist. Er glaubt an die alten Sitten, schwärmt aber für westliche Kultur. Er sagt uralte Gedichte auf und redet sich ein, dass er in einer Welt leben kann, in der Männer genug Liebe für vier Frauen haben und Romantik eine Reihe von märchenhaften Episoden voller Sehnsucht und hinreißender Geständnisse ist. Er versteht nichts von Politik, hasst Religion und hat sich noch nie nach irgendeinem Ort außerhalb von Gilan gesehnt. Er verehrt Sabas Vater, weil er sich vorstellt, dass auch er es eines Tages zum Grundbesitzer in Cheshmeh bringt und seine Familie ihn als Helden verehren wird, dass ein Dutzend alte Frauen mit Babys im Arm vor dem Haus sitzen und ihm dabei zuschauen werden, wie er seinen alten Fußball zwischen zwei Mülleimer kickt, und dass er ihnen zur Belohnung Lieder vorsingen wird, während sie in seiner kleinen, aber gut ausgestatteten Küche hocken und ihm sein Lieblingsgericht kochen. Seine Welt ist von Frauen bevölkert. Auf eine von ihnen verzichten zu müssen – Saba oder Ponneh oder seine Mutter –, wäre ihm unvorstellbar.
    Später verabschieden sich die jüngeren Mullahs und lassen Saba mit ihrem Vater, ihren beiden besten Freunden, den Frauen und Mullah Ali allein. Als der Geistliche eindöst, muss die kleine Sodaflasche mit dem Selbstgebrannten nicht mehr unter Khanom Omidis Röcken versteckt werden, und alle können sich ungezwungen einen Schluck genehmigen. Auch Sabas Vater zieht noch ein paarmal an der Pfeife, die Frauen lachen laut, und Saba stopft ihr Kopftuch unter ein Kissen. Selbst Khanom Basir blickt jetzt nachsichtig und scheint Sabas unschicklichen Rock vergessen zu haben. Dann bittet Khanom Omidi als Erste: »Saba-dschan, tanz doch ein bisschen für uns.«
    »Ja, Saba, du musst uns was vortanzen«, sagt Ponneh und fängt an zu klatschen.
    Ihr Vater lacht mit ehrlicher Freude, so wie er früher gelacht hat. »Meine Tochter ist in vielen Dingen gut. Sie ist wie ihre Mutter. Eine schöpferische Seele.«
    Mullah Ali nickt schläfrig. »Ja, ja.«
    Trotzdem warten sie, bis er richtig eingeschlafen ist. Seit der Revolution traut sich niemand mehr, vor Leuten zu singen oder zu tanzen, die nicht zu den engsten Freunden zählen. Und obgleich der Mullah seine schützende Hand über Agha Hafezi gehalten hat, spielt Sabas Vater schon allein dadurch mit dem Feuer, dass er ein Fest erlaubt, bei dem sich unverheiratete Männer und Frauen in ein und demselben Raum aufhalten.
    Es dauert jedoch nicht lange, bis der Geistliche tief und fest schläft, und auf einmal befinden sie sich nicht mehr in diesem Jahr oder in dieser einsamen Zeit des Lebens. Plötzlich ist Saba ein Mädchen aus einem längst vergangenen Jahrzehnt, in einem alten Iran, den es vielleicht niemals gegeben hat. War er nur ein Fantasiebild? Ein Lügengespinst, erfunden von der Generation ihrer Eltern? Aber nein, es muss ihn gegeben haben, denn in jener Zeit konnte Sabas Mutter ihr trotz Bildung und westlicher Ideale ungezähmtes Selbst ausleben, schamlos in der Öffentlichkeit tanzen, anderen ihre pure Wonne oder Trauer zeigen, auf
sofrehs
, die längst schon von Essen und Tee leer geräumt worden waren.
    Reza steht bereits auf, um die Gitarre zu holen, die in dem Schrank hinter Sabas Vater versteckt ist. Er lässt sich gegenüber von Ponneh und den älteren Frauen nieder. Khanom Basir und Khanom Omidi räumen den
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ab, und Saba geht barfuß in die Mitte des Teppichs. Reza beginnt mit einer alten Farsi-Melodie, langsam und gewunden, voller lang gezogener, dunkler Töne, bei denen Sabas Arme und Beine verharren können. Seine Finger bewegen die Saiten mit der gleichen

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