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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Verträumte Augen. Hochgewachsener, kurvenreicher Körper. Sind Mahtab und ich noch immer gleich? Vielleicht nicht mehr lange. Sie hat darum gebettelt, sich die Nase operieren lassen zu dürfen. Das ist ein Initiationsritus für viele persische Mädchen aus unseren Kreisen – für diejenigen im Iran, weil das Kopftuch ihnen keine äußere Schönheit gewährt als den Ring, den es um ihr Gesicht zieht; und für diejenigen in Amerika, weil sie ihre einsamen Einwanderersorgen haben.
    Als bis Mai kein neuer Brief aus Harvard kommt, wird Maman von einer seltsamen Furcht erfasst – eine besondere Art der Vertriebenenpanik, die einen ereilt, wenn man vor zu vielen verschlossenen Türen und zu vielen Stapeln von Papierkram steht. Mahtab ist untröstlich. Sie verbringt die Tage allein in ihrem Zimmer, schwänzt die Schule, bekommt Wutanfälle. Sie redet erbittert davon, Postbotin zu werden oder Gärtnerin oder eine gutbürgerliche Ehefrau, wie die Frauen in den Fernsehserien. Vielleicht muss sie zurück in den Iran und einen Mullah heiraten, sagt sie.
    Trotz ihrer eigenen Ängste zieht Maman mehr und mehr die Operation als eine Möglichkeit in Betracht, Mahtab zu beruhigen. Was soll sie sonst tun? Sie hat selbst schon zu viel durchgemacht. Sie hat als Fabrikarbeiterin angefangen und sich in die Betriebsleitung hochgearbeitet, kann ihrer Tochter nach einem kargen Apartment nun ein bescheidenes Haus bieten. Sie hat schon ein Kind verloren, und dort, wo diese Tochter in ihrem Herzen wohnte, sind jetzt nur noch Narben. Obgleich sie Veränderung in jeder Form verabscheut und obgleich sie nicht will, dass ihre eigenen Spuren aus dem Gesicht des Kindes getilgt werden, gibt sie schließlich nach, um Mahtab glücklich zu machen.
    Natürlich kann ich ihre Gedanken nur vermuten. Ich weiß, dass meine Mutter jetzt anders sein muss, denn wir Menschen verändern uns, so langsam, dass wir blind dafür sind, wie wir ja auch nicht merken, dass unsere Zähne gelb werden, bis plötzlich zehn Jahre vergangen sind und uns auffällt, dass uns schon lange niemand mehr ein Kompliment für unser schönes Lächeln gemacht hat. Ich stelle mir vor, dass meine Mutter ihr altes Leben vermisst, ihre alten Freunde. Wahrscheinlich ist sie mit Abstand die Einsamere der beiden. Ihre Verluste sind, anders als die von Mahtab, unmöglich zu verwinden. Ihr Einwandererfluch ist ein greifbares, atmendes Etwas. Er lebt und isst bei ihnen, wie ein ungeliebter Stiefvater.
    Aus Angst um die Zukunft ihrer Tochter, die sie bereits so viel gekostet hat, nimmt sie ein Darlehen auf, um die neue Nase bezahlen zu können. Merkt ihr, wie sie meiner Schwester hilft, mich loszuwerden? Ich seh sie noch immer vor mir, wie sie am Flughafen stand, mit Mahtab an der Hand, und sich nicht umdrehte, als ich nach ihnen rief. Obwohl ich ihre Namen schrie, bestiegen sie dieses Flugzeug, ohne auch nur Lebewohl zu sagen. Und jetzt verlassen sie mich wieder und wieder, auf immer neue und täglich fantasievollere Arten.
    »Sei nicht traurig, Saba-dschan. Ich bin ziemlich sicher, dass Nasen im Alter wieder nachwachsen.«
    Aber vielleicht war das alles ja gut so, denn passt auf, was jetzt kommt:
    An einem doppelt glücklichen Morgen Ende Mai erwacht Mahtab nach ihrer Operation und sieht die Glücks-
pari
am Fußende des Bettes hocken. Eine verschwommene, dreiköpfige Version ihrer Mutter schwenkt einen Brief und hüpft auf und ab. »Du bist von der Warteliste runter! Du gehst nach Harvard, Mahtab-dschun!« Und auf einmal ist sie verwandelt. Ein Harvard-Mädchen mit einer geraden Nase, lang und schmal, die am Ende leicht nach oben zeigt.
    Ehe sie mit dem Studium beginnt, färbt Mahtab sich das Haar kastanienbraun. Ich würde diese Farbe niemals wählen. Und später, in Harvard, als sie ihren Namen in »May« ändert, denkt sie nicht mal mehr an mich. Mit jeder Veränderung ihres ursprünglichen Aussehens fühlt sie sich ein bisschen freier, ein bisschen weniger an uns gebunden – an unsere Zwillingswelt. Keiner wird sie je auf der Straße ansprechen und sagen: »He, du da, ich hab dich neulich in einem Dorf im Iran gesehen. Du gehörst hier nicht hin.«
    Als Mahtab noch in diesem Dorf war, als das Dorf der einzige Ort war, wo sie hingehörte, lauschte sie dir gern, meine liebe Khanom Mansuri, wenn du erklärt hast, wie Teppiche gemacht werden und wie man sie bewertet. Die drei Grundfarben, die Qualität der Fasern, die Anzahl der Knoten, die Ebenmäßigkeit der Fransen. Einmal hast du uns beide

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