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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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lässt. Im Gegenzug erzählt sie ihm, wenn sie sich langweilt oder unruhig ist, ihre Geheimnisse – dass sie Harvard-große Träume hat, dass sie Martial-Arts-Filme mag und sich dreimal
American Ninja
angesehen hat.
    Heute wird sie wieder zu spät zur Arbeit kommen, weil sie, wie schon die ganze Woche, in ihrer Vorstadt an der Bordsteinkante wartet. Endlich erblickt sie den Postwagen in der Ferne. Er fährt vorbei an den Häusern der Changs, der Hortons, der Kerinskis und der Stephanopoulos – in amerikanischen Straßen wimmelt es nämlich von solchen Namen –, bis er schließlich zu einem abblätternden Zaunpfosten und einer trägen
pari
kommt. Er hält vor dem Hafezi-Haus, und eine körperlose Hand streckt sich aus dem Wagenfenster. Wie ein Postwagen-Flaschengeist stopft die Hand fünf dicke Umschläge und vier dünne in Mahtabs Briefkasten.
    »Ist das gut? Diese dicken und dünnen Umschläge?«, fragt Khanom Mansuri.
    Oh ja. Wisst ihr, in Amerika prozessieren die Leute gern. Deshalb versuchen die Universitäten, zulassungsbedingte Herzattacken zu vermeiden, indem sie ihre Entscheidung schon durch die Dicke der Umschläge andeuten. Das ist so ähnlich wie bei Eintöpfen – die deftigen sind ein Zeichen von Erfolg.
    Wenn Mahtab später im Leben die Geschichte von ihrem Zulassungs-Flaschengeist erzählt, glaubt ihr kein Amerikaner. Das macht ihr nichts aus. Schon jetzt weiß sie, dass es nicht ratsam ist, Amerikanern gegenüber darauf zu beharren. Diese Westler sind logische Menschen. In ihrem Alltag schweben keine Geister oder Körperteile frei herum. Sie werden Mahtab nie verstehen, weil sie an glückliche blonde Prinzessinnen wie Schahzadeh Nixon gewöhnt sind, die die Finger vom Knoblauch lassen und die Hände im Schoß gefaltet halten.
    »Gut gemacht, Kiddo!«, ruft eine Stimme aus dem Inneren des Postwagens – so nennen amerikanische Flaschengeister nämlich Kinder, deren Namen sie vergessen haben. »Tolle Unis!« Mahtab kann ihre Beine kaum spüren. Sie rappelt sich hoch, streift die Sandalen von den Füßen und schwimmt durch den dichten Dunst zu ihrem Briefkasten, der jetzt prall mit Dick und Dünn gefüllt ist, fegt die ruhende
pari
mit einem Schlag ihrer rudernden Arme von ihrem hohen Sitzplatz.
    Bevor wir den Umschlag von Harvard öffnen, muss ich sicherstellen, dass ihr seine ganze Tragweite versteht. Es geht hier nämlich nicht nur um Bildung, Khanom und Agha Mansuri. Mahtab braucht einen Vater. Könnt ihr euch vorstellen, wie sehr sie Baba vermissen muss? Vielleicht ebenso sehr, wie ich Maman vermisse. Aber anders als ich füllt Mahtab die Löcher in ihrem Herzen mit der Kraft ihres Willens. Sie ist schlau, und sie sitzt nicht herum und suhlt sich in ihrem Leiden. Während sie den Umschlag nimmt, sieht sie sich daher schon in den warmen, sicheren Armen von Baba Harvard – dem vollkommensten Vater der Welt mit seinen tiefen Taschen und der unendlichen Gelehrsamkeit, der nachsichtigen Disziplin und visionären Philosophie. Sie dreht und wendet den Umschlag, betrachtet den Poststempel von Cambridge, fährt mit den Fingern über ihre eigene Adresse. Er ist weder dick noch dünn. Sie reißt ihn mit bebenden Händen auf und überfliegt das Schreiben. Leider weiß ich nicht genug, um diesen Brief für euch neu zu erschaffen, aber im Kern teilt er ihr Folgendes mit:
    Sehr geehrte Ms Hafezi,
irgendwas, irgendwas …
WARTELISTE
 … noch irgendwas.
    Mit freundlichen Grüßen
    Harvard College
    »Nicht zu fassen!«, sagt Khanom Mansuri empört. »Was bildet sich dieser Agha Harvard denn ein, dass er meint, er könnte unsere Mahtab warten lassen? Weiß der denn nicht, dass sie den lieben langen Tag auf Englisch plappern kann? Sie kennt bestimmt tausend schwierige Wörter!«
    Jawohl, Tausende! Tja, als Maman später nach Hause kommt, steckt Mahtab schon tief im Trauerprozess: das Haar zerrauft, Pyjama verrutscht. Mahtab tut alles mit echter Hingabe – deshalb bemerkt sie nicht, wie wunderbar es ist, eine Mutter zu haben, die jeden Abend nach Hause kommt, um Zeugin ihrer Tragödien zu werden. Schaut euch unsere Maman an, wie sie am Bett meiner Schwester sitzt, ihr übers Haar streicht, die Ähnlichkeit zwischen den beiden, jetzt, wo Mahtab erwachsen ist. Sie sind nicht mehr die Frau und das Kind am Flughafen. Jetzt ist Mamans Eleganz durch Erschöpfung und Fabrikarbeit abgenutzt, ihr Bubikopf ist von Grau durchzogen. Aber seht ihr, dass Mahtab und ich ihren dunklen Typ geerbt haben? Pechschwarzes Haar.

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