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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Tellerwäschermann aus Südmexiko verabschiedet … traurig, traurig … Es geht gar nicht um fehlende Eltern und zerbrochene Familien. Es geht um diesen verrückten, verrückten Mann, der hier in dem großen Haus hockt und zusieht, wie seine Tochter sich überschlägt, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Was ist nur los mit ihm? Wenn du wüsstest, wie viele Stunden sie allein verbringt, würden dir vor Schreck Hörner wachsen.
    Nein, erzähl mir nicht, er hätte es versucht. Nie seh ich sie mal zusammen außerhalb des Hauses.
    Agha, wenn du das nächste Mal hingehst, nimm doch vielleicht für sie ein kleines Geschenk mit oder frag sie nach diesem oder jenem. Mach ihr wegen irgendeiner Kleinigkeit ein Kompliment, zum Beispiel wegen ihrer Armreifen oder, falls sie keine trägt, wegen ihrer weißen Haut. Väterliche Dinge, nach denen sie so dürstet … Und sieh mich nicht so ängstlich an. Sie ist ein junges Ding, keine Gartenschlange. Ich hab gesehen, wie du den Fernseher angestarrt hast, also habt ihr viel, worüber ihr reden könnt. Vielleicht lässt du sie die Geschichten erklären, ohne dauernd dazwischenzureden – jawohl, du hast dazwischengeredet. Aber einen Teil hab ich trotzdem verstanden … irgend so ein Keaton-Meaton-verrückt-
bazi
. Eine nutzlose Geschichte. Ohne Sinn und Verstand.
    Aah, das tut gut. Kratz mich genau da. Danke, Agha-dschan.
    Glaubst du, an dem ganzen Gerede ist was dran? Manche sagen, Abbas wäre eine gute Wahl für unsere Saba, weil er älter ist und reich wie ihr Vater. Andere sagen, ihr Vetter Kasem wäre eine gute Wahl, weil er ja schon zur Familie gehört. Das macht mich traurig, weil ich immer gehofft hab, sie würde das finden, was du und ich hatten. Junge Liebe … Liebe, bei der es nicht darum geht, sie zu ertragen. Bei der es um Spaß geht. Weißt du noch, als wir in ihrem Alter waren … morgens hinter dem Haus?
    Ja, ja, ich weiß, das gehört sich nicht. Ich rede nicht weiter drüber.
    Ich rede nicht drüber … Warum hast du mit dem Kratzen aufgehört?
    Wo war ich eben? Ich bin müde, Agha. Ich hab nicht gut geschlafen. Überall so viel Tod, das lässt mich schlecht träumen. Hilf mir, mich hinzulegen … Die Tage sind jetzt so seltsam, wo all unsere richtigen Freunde tot sind und wir in der Welt unserer Kinder leben. Ich habe Angst vor dem Sterben. Das ist eine trostlose Angelegenheit.
    Was meinst du, Agha-dschan? Vielleicht hat Saba mit ihrem Zwillingssinn irgendetwas herausgefunden. Ich denke, dass diese Geschichte viele Arten von Wahrheit enthält, und die größte davon ist, dass Mahtab irgendwo noch immer lebt.

Kapitel Fünf
    Herbst–Winter 1989
    A n einem winterweißen Freitagnachmittag geht Saba zum offenen Markt, dem
jomeh-bazaar
, und denkt, sie sollte eine bessere Lügnerin werden. Es muss leicht sein, in Amerika zu leben, wo die Menschen einfach sagen, was sie denken. Im Iran musst du unredlich sein, musst deine Bedürfnisse vermitteln, indem du scheinbar das Gegenteil begehrst. Sie wünscht, sie hätte Reza weniger überzeugend angelogen.
    In letzter Zeit kommt er häufiger ins Haus und bittet, auf der Gitarre spielen zu dürfen, die im Wohnzimmerschrank versteckt ist. Er legt seine Finger auf die Saiten, vergleicht den Klang mit der
setar
seines Vaters oder der größeren, bauchigeren Oud. »Baba kann jedes Saiteninstrument spielen«, prahlt er. Sie waren nur ein einziges Mal ohne Ponneh in der Vorratskammer. Es war eigenartig, sie beide allein in der Dunkelheit – ganz anders als das natürliche, ungehemmte Gefühl, wenn sie zu dritt sind und ständig scherzen und flirten, sich über Kasem lustig machen. Stattdessen saßen Saba und Reza nervös da und lauschten dem Kassettenrekorder. Er zündete eine Zigarette an und sah zu, wie sie einen Zug nahm. Als Stille eintrat, fummelte er mit der Streichholzschachtel herum. »Saba Khanom«, sagte er, »hast du –« Dann stockte er. Sie dachte, er wollte sie fragen, ob sie Sehnsucht nach Mahtab hat, wie er das immer tat.
    »Vai«
, seufzte sie. »Hör mit dem Saba-Khanom-Blödsinn auf.«
    Dann zog er ihr die Zigarette aus dem Mund. »Darf ich dich dann küssen? Nur ein Mal?«
    Darauf war sie nicht gefasst, und sie sagte Nein, obwohl sie Ja sagen wollte. Er fragte nicht noch mal. Jetzt fürchtet sie, dass sie ihn beleidigt hat. Vielleicht denkt er, sie will keinen Dorfjungen küssen. Das Problem, befindet Saba, liegt darin, dass sie nicht gelernt hat, zu lügen und gleichzeitig die Wahrheit zu vermitteln

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