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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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auf den Schoß genommen und uns die Rückseite eines Teppichs gezeigt. »Seht ihr, wie unordentlich das aussieht? Die vielen Fäden auf der Rückseite? Ihr seht sie nicht, weil es ihre Aufgabe ist, unsichtbar zu sein, aber in Wirklichkeit halten sie alles zusammen.« Es gibt einen unsichtbaren Faden, der Schwestern auf der ganzen Welt zusammenhält. Ganz gleich, wohin sie reisen und wie viel Erde und Wasser zwischen ihnen ist, selbst wenn eine von ihnen diese Welt für immer verlässt. Und obwohl du ihn nicht sehen kannst, ist er der Grund dafür, dass du nie wirklich davonlaufen kannst, genau wie die eine Hälfte eines Teppichs nicht den Wohnzimmerboden bedecken kann, wenn die andere Hälfte im Flur liegt. »Und, meine Zwillinge«, hast du damals zu uns gesagt, »seht ihr, wie das Muster im Teppich vollkommen symmetrisch ist? Beide Seiten genau gleich? Wie könnte man die beiden Hälften je trennen? Die Leute würden stets wissen, dass ein Stück fehlt.«
    Seit Mahtab nach Kalifornien gezogen ist, hat sich der unsichtbare Faden angefühlt wie eine Schlinge um ihren Hals. Und jetzt spürt sie, wie er sich mit jeder körperlichen Veränderung lockert, sodass sie wieder atmen kann. Wenn sie sich abends im Spiegel betrachtet, bedauert sie ihre Schwester mit der persischen Nase und den unrasierten Beinen, mit ihrem Gilaki-Kopftuch und den Aufgaben eines Mädchens vom Lande.
    Eine Woche vor ihrer Abreise nach Harvard sehnt sich Mahtab nach Gesellschaft, hat das Gefühl, sie sollte sich von jemandem verabschieden. Vielleicht bereut sie, dass sie sich nie von mir verabschiedet hat. Und als ihr niemand sonst einfällt, mit dem sie reden könnte, geht sie vielleicht deshalb noch einmal in den Diner und setzt sich in eine Ecke, beobachtet ihre Schulkameraden, die
pancakes
essen und sich gegenseitig mit Sprüchen aufziehen, die nur sie verstehen.
    Wie soll sie in Harvard je Freunde finden?
    Mahtab geht nicht zu ihnen. Sie sitzt einfach da und wartet. Die Person, mit der sie reden möchte, ist nicht unter ihnen. Sie lauscht ihnen unauffällig eine Stunde lang, und dann, als ihre Schulkameraden aufgegessen haben, ihre Rucksäcke nehmen und grüne Geldscheine auf den Tisch legen, denkt Mahtab, dass vielleicht niemand die Leere füllen wird. Vielleicht wird sie sich in dieser neuen Welt abplagen und darauf warten müssen, dass ich zu ihr komme – wie in einer Art Fegefeuer. Vielleicht wird sie sich abrackern müssen, um die Götter zu beschwichtigen, die das Glück verteilen, die eine Schwester der anderen vorziehen, obwohl ihr Blut genau gleich ist – denn sie hat schon mehr Glück gehabt, als ihr zusteht.
    Trotzdem will sie unbedingt hierhergehören. Wird sie je auch nur annähernd so sein wie sie? Wird Baba Harvard erfüllen, was er verheißt? Wird er sie wegen ihrer Fremdartigkeit ablehnen?
    Wenn ihr richtiger Vater hier wäre, denkt Mahtab, würde sie sich nicht anpassen müssen. Sie würde die Merkmale, die sie mit ihm teilt, nicht ändern wollen. Sie würde ihm nach jedem Semester ihre Noten zeigen und auf dieses gemächliche Lächeln warten, das sich wie eine dicke Farbschicht über sein Gesicht breitet und langsam seine cremefarbenen Zähne zum Vorschein bringt. Sie würde nie rebellieren oder mit Jungs ausgehen, die er nicht mag. Sie würde nicht darum bitten, Auto fahren oder kurze Röcke tragen zu dürfen, und nachmittags würde sie ihm Tee kochen und zuschauen, wie er ihn durch den Zuckerwürfel zwischen den Zähnen lutscht.
    Der Diner ist jetzt fast leer. Sie hört die Stimme von Otis Redding – wisst ihr, wer Otis Redding ist? Er macht schöne Musik – aus der Küche in den Gastraum klingen.
Sittin’ on the dock of the bay
. Josés unverkennbare Stimme summt die Melodie mit. Sie folgt der Musik in die Küche, denkt, dass er sich dort vielleicht einsam fühlt.
    »Mija«
, sagt er, was der liebevolle Ausdruck seines Volkes für »Mädchen« ist. »Ich dachte, du hättest gekündigt.«
    Sie geht auf ihn zu und murmelt vage, ihr wäre langweilig gewesen. Sie tritt näher an die Spüle, bis sie neben ihm steht und zusehen kann, wie seine Hände und Unterarme in einem weichen Berg aus Seifenschaum verschwinden. Dann überrascht sie sich selbst, indem sie ihren Kopf an Josés Schulter legt. Sie weiß, dass das seltsam ist. Sie spürt es, weil er plötzlich aufgehört hat zu spülen, sein Körper erstarrt. Aber das ist ihr egal. Es ist so lange her, dass sie die Windungen und Knubbel einer väterlichen Schulter an ihrer

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