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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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gleich neben ihrem hat. Sie saugt die Details der Serien in sich auf – die leicht unwohnliche Anmutung der Vorstädte, die Einrichtung der Küchen, die Frisuren der Frauen, die unvermeidlichen
pancakes
zum Frühstück. Sie vermisst ihre Schwester. Gleichzeitig will sie allein sein. Diese Fernsehserien sind eigenartig, denkt sie. So viele Sorgen und Krisen und Kränkungen werden darin abgehandelt. Aber irgendwie ist nach dreißig Minuten oder noch weniger die Welt wieder in Ordnung. Was für eine wunderbare Welt, in der alle Mühsal des Lebens nach genau 22,5 Minuten visuellen Geschichtenerzählens wie weggeblasen ist und alle sich umarmen. In dieser Welt will Saba leben. Sie stellt sich vor, dass ihre Schwester das bereits tut.
    Draußen wird der Himmel dunkel, und Khanom Mansuri ist eingeschlafen. Ihr Mann sitzt weiter stumm zehn Zentimeter vom Fernseher entfernt. Dann durchfährt ein Ruck die alte Dame, sie setzt sich auf und ruft: »Saba, komm her.«
    Saba geht zur anderen Seite des Raumes und setzt sich neben Khanom Mansuri auf den Teppich. Sie arrangiert die Kissen hinter der alten Frau, um es ihr bequemer zu machen.
    »Saba-dschan, was ist eigentlich aus dieser ganzen Sache mit Mahtab und Amerika geworden?«
    Normalerweise schnürt sich Saba der Hals zu, wenn jemand ihre Schwester erwähnt. Doch etwas im Tonfall der alten Frau lässt Saba näher heranrücken. Träumt Khanom Mansuri? Hat sie sich mit dem Jahr vertan? Doch dann flüstern ihre welken Lippen etwas, von dem Saba weiß, dass es kein Traum ist. »Bist du noch immer zu erwachsen für Geschichten? Weißt du noch … das Kind und die Bewältigung?«
    Saba lächelt, denkt zurück an den Tag, als sie zusammen mit Ponneh die
Zane Ruz
-Illustrierte lasen. Es ist beeindruckend, dass Khanom Mansuri sich an ein Gespräch erinnert, das so lange her ist. Saba streicht die hennaroten Haarsträhnen zurück, die unter dem Kopftuch der Alten herausgeglitten sind. »Ich bin nicht mehr zu alt dafür«, flüstert sie und legt den Kopf auf Khanom Mansuris Schulter.
    »Dann erzähl mir eine Geschichte. Irgendwas, das Mahtab im Brief geschrieben hat.«
    »Es gibt keinen Brief«, sagt sie und hofft, dass jemand die Lügen hinterfragt, die sie sich über Mahtab ausgedacht hat.
Jenseits des Meeres
, flüstert sie wieder und wieder in ihren Träumen von
pasdars
, die Messer an ihre Kehle halten und Wahrheiten aus ihrem widerwilligen Mund herauszwingen.
    Khanom Mansuri schüttelt den Kopf. »Du sollst eine alte Frau nicht ärgern«, sagt sie mit einer Stimme wie der eines Vogels. »In meinem Alter begreifst du, dass wahre Dinge nicht immer die Dinge sind, die das Auge sieht. Ich will wissen, was in dem Brief steht, ehe ich beurteile, ob er wahr ist oder nicht.«
    Saba lacht auf, weil sie nicht weiß, was sie zu einer solchen Aufforderung sagen soll. Sie wendet sich an den Ehemann der alten Frau. »Agha Mansuri, bitte, kannst du mir helfen?«
    Einen Moment herrscht Stille, und sie denkt schon, Agha Mansuri hätte sie nicht gehört. Aber dann sagt er, ohne die Augen vom Fernseher zu nehmen: »Wie soll ich helfen? Erzähl ihr einfach die Geschichten, was in den Briefen stand oder sonst was, damit sie sagen kann, ob es wahr ist. Was ist daran so schwierig?«
    Saba seufzt: »Aber es gibt doch keine –« Sie verstummt, weil es keinen Sinn hat, mit ihnen zu diskutieren. Außerdem, warum wehrt sie sich dagegen? Sie hat Mahtab in ein Flugzeug nach
irgendwo
einsteigen sehen. Das ist nicht zu bestreiten. Und seit jenem Tag in der Gasse hinter dem Postamt von Rasht hat sie keine Geschichte über Mahtab mehr erzählt – außer sich selbst allein im Bett oder Baba ein paar Einzelheiten.
    Die Mansuris werden sie nicht verurteilen. Sie gehen kreativ mit der Wahrheit um, nicht bloß, weil sie Iraner sind und wissen, dass gute Geschichten ausgeschmückt, Lobesworte übertrieben und die Hälfte aller Einladungen gelogen sein müssen, sondern auch, weil sie alt sind, und Saba vermutet, dass das am Ende des Lebens ebenso passiert wie am Anfang. Menschen, die diese Welt gerade betreten haben oder sie bald verlassen werden, versuchen zu verstehen, was das alles zu bedeuten hat, wie leicht die kostbarsten Besitztümer zerbrechen können und welche sie behalten dürfen. Wenn sie die bittere Wahrheit erkennen, dass alles zerbrechlich ist und letztlich verschwindet, erfinden sie eine neue Wirklichkeit, in der das Beste dessen, was verloren ist, irgendwo auf sie wartet. Sie sind nur zu beschäftigt,

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