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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Wange gespürt hat.
    »Auf Wiedersehen, José«, murmelt sie in sein kratziges Flanellhemd. »Du wirst mir fehlen.«
    Er streichelt Mahtabs Haar mit seiner nassen, schaumigen Hand. Vielleicht fehlt auch ihm die Sanftheit einer töchterlichen Wange an der Schulter. Er sagt: »Pass gut auf dich auf,
mija

    Da. Sie hat sich verabschiedet … von
jemandem
. Nicht von mir. Der Faden, der Schwestern auf der ganzen Welt zusammenhält, ist zerrissen, und es gibt keine Symmetrie mehr zwischen uns. Aber gerade sehe ich, dass knapp zweiundzwanzig Minuten vergangen sind, und gemäß den Regeln des amerikanischen Fernsehens muss jetzt ein Problem gelöst sein. Es wird Zeit, dass Mahtab die erste ihrer Einwanderersorgen abstreift. Wollt ihr hören, welche das ist? Die erste Sorge ist bei allen gleich. Von jetzt an wird Mahtab mit dem kastanienbraunen Haar und der spitzen Nase und der ausgezeichneten Ausbildung, Adoptivtochter von Baba Harvard, keine Angst mehr vor ihren persischen Wurzeln haben. Aber seid nicht traurig. Dieses Gesicht, es existiert noch irgendwo – nur dass es jetzt nicht mehr Teil eines Paares ist.
    * * *
    Khanom Mansuri ist jetzt ganz wach, und sie nimmt Sabas Hand, berührt ihr Gesicht und sagt: »Du weißt, du bist für mich wie meine eigene Enkeltochter.«
    Saba nickt, Agha Mansuri auch. »Ja, ja«, sagt er, »unsere eigene Enkeltochter.«
    Seine Frau spricht weiter: »Mahtab oder keine Mahtab. Brief oder kein Brief, diese Geschichte ist wahr.«
    Obwohl Saba in den Armen ihrer Ersatzgroßmutter bleiben möchte, um ein wenig zu weinen und sie zu fragen, wieso sie das glaubt, küsst sie Khanom Mansuri nur rasch auf die pergamentene Wange und steht auf, um Abendessen zu machen. Die Mansuris sind zu lange geblieben, daher werden sie die Nacht bei den Hafezis verbringen. Saba versucht, die Worte der alten Frau aus dem Kopf zu bekommen, weil sie keine Zeit hat, sich lange mit traurigen Dingen zu befassen. Sie will nicht so ein Mädchen sein, das sich in seinen eigenen Gedanken und Tagträumen verliert. Sie muss jetzt Bettzeug für ihre Gäste holen. Aber Khanom Mansuri ruft ihr nach, noch einen Moment zu warten. »Es spielt keine Rolle, wo etwas geschieht, solange es geschieht. Wenn ich dir die Geschichte erzählen würde, wie ich meinen Agha hier das erste Mal geküsst habe … an unserem Hochzeitstag oder im Hof, als wir zwölf waren. Wen kümmert das denn wirklich? Die Details kannst du verändern. Das Wo und das Wann. Aber das
Was
und das
Wie
bestimmen, ob etwas wahr ist oder eine Lüge.«
    Agha Mansuri wird bei der Erinnerung rot und nuschelt irgendwas vor sich hin.
    »Khanom Basir hat gesagt, es ist nicht gut, wenn eine erwachsene Frau in der Vergangenheit lebt«, sagt Saba, »oder Geschichten von Menschen erzählt, die nicht bei uns sind.«
    »Ach was«, sagt Khanom Mansuri und greift nach ihrem Glas. Sie macht eine Handbewegung, als würde sie Khanom Basirs Bemerkung verscheuchen wie eine lästige Fliege. »Was für ein kleines Mädchen gut ist, ist auch für eine erwachsene Frau gut. Erwachsene Frauen brauchen bloß größere Portionen.«
    »Das ist ein sehr netter Gedanke«, sagt Saba. Der netteste, den sie seit Langem gehört hat.
    »Na, dann bring deine Geschichte zu Ende«, sagt Khanom Mansuri, »damit wir wissen, dass sie wahr ist.«
    Saba nickt ergeben und schließt: »Nach oben ging’s, und da war
dugh
 …«

Die Wahrheit davon
    Khanom Mansuri – die Uralte
    A gha, hast du alles mitbekommen, was sie gesagt hat? Hast du aufmerksam zugehört? Du hast nicht viel gesagt, deshalb glaube ich, dass du gar nicht zugehört hast. Sie ist nicht wie unsere Enkeltochter Nilu. Saba ist belesen, und sie weiß, wie sie das, was sie eigentlich sagen will, verbergen kann. Da braucht man gute Ohren, Agha-dschan. Als sie zu Ende erzählt hatte, konntest du sehen, wie sich ihre Gesichtsfarbe verflüchtigte. Du konntest ihre Sehnsucht nach Mahtab hören. Du nicht? Ach, was redest du da, Agha? Du siehst ein Kamel, du siehst kein Kamel. Du bist selbst ein kleiner Junge. Deshalb mag ich dich ja so.
    Ich schlafe nicht gern unter diesem Dach. Ich bin noch immer müde. Aber es war gut, dass wir geblieben sind. Ich begreife nicht, dass sie in diesen großen Räumen nachts keine Angst hat.
    Ai
, mein armes Mädchen.
    Willst du die eigentliche Bedeutung dieser Geschichte hören? Ja, ich hab’s verstanden – hilf mir beim Hinsetzen, ja? –, die ganze Sache mit Baba Harvard und dass sie sich von diesem gütigen

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